Mittwoch, 7. Dezember 2011

Wetterauer Geschichten Teil10

Zurück in der Wetterau (10)

Es weihnachtet in Bad Nauheim und die Menschheit wird großzügig. Neuerdings bekomme ich beim allwöchentlichen Einkauf meines Kaffees bei Tschibo eine bunte Sondermarke dazu „gratis“. Kostenlos sei sie, erklärte mir die freundliche Dame hinter dem Tresen: im Kaffeepreis enthalten. Und es sei für einen guten Zweck: 45 Cent fließen direkt in das Mount Kenya Project. So einfach ist es, eine gute Tat zu verbuchen (die ich als alte Pfadfinderin natürlich täglich verrichte). Ich lasse mich nicht lumpen und horte nun bunte Umschläge mit 55 Cent Marken.

Anfang der Siebziger waren gute Taten etwas aufwändiger, denn man musste meist mit vollem körperlichen Einsatz den Weihnachtsbasar unterstützen. Damals flossen unsere Einnahmen allerdings nicht mehr an Biafrakinder, sondern, unter anderem, in die Vereinskasse des VCP, die so unsere Sommerlager subventionierte. In wochenlangen Bastelorgien zur Adventszeit entstanden so mehr oder weniger nützliche Dinge, die wir alljährlich zur Weihnachtszeit an unserem VCP Stand vor der Schillerlinde für einen guten Zweck unter die Menschheit brachten.

Und da die Wetterauer ein spendierfreudiges Volk sind, schmückten unsere Werke nun bald die Wohn- und Schlafzimmer der Region. Und wenn sie noch nicht entsorgt sind, so leben sie heute noch. Schauen Sie mal in ihrem Keller nach, vielleicht finden Sie dort das ein oder andere Ergebnis unserer Bastelwut: Strohsterne, ein verfärbetes Batik-T-Shirt oder eine Kordellampe?

Kordellampen waren Anfang der Siebziger die Wetterauer Antwort auf Akari-Leuchten. Ein schlichtes Lampenmodell, das man leicht in Heimarbeit mit einem Wasserball, einer Kordel und etwas Kleister herstellen konnte. Man blies den Wasserball auf und begann, die Kordel so lange kreuz und quer um den Ball zu wickeln, bis er beinahe nicht mehr zu sehen war. Dann pinselte man Kleister darüber und ließ das Ganze trocknen. Nach ein paar Tagen ließ man dann die Luft aus dem Ball, zog ihn vorsichtig an einem Ende heraus und entfernte den überschüssigen Kleister.

Leider entpuppten sich einige Modelle als nicht wärmeresistent, und so geschah es, dass sich das Schmuckstück oft in Wohlgefallen auflöste. Die ersten Kordelstücke, die die Schwerkraft unbarmherzig in Richtung Teppich zog, versuchte man noch – mehr oder weniger erfolgreich –  wieder anzukleben. Doch es kam der Zeitpunkt, an dem man entnervt die Überreste in einem Karton verstaute und in den hintersten Winkel des Kellers verbannte (wegwerfen ging nicht, denn es war ja selbstgebastelt).

Auch die T-Shirts, die wir zunächst liebevoll mit Wachs beträufelten, zusammenschnürten und dann in Eimer mit gelösten Farben tauchten, erwiesen sich als nicht ganz pflegeleicht. So nahm oft der gesamte Inhalt einer Waschmaschine die Regenbogenfarben unserer Batikkreationen an. Da half meist auch kein Entfärber mehr und das Ergebnis trug nicht gerade zur Weihnachtsstimmung bei.

Doch die kam vor dem Weihnachtsbaum schnell wieder auf, wenn das alljährliche Entwirren des Kabels der Lichterkette anstand. Zu diesem Zeitpunkt war das Gröbste bereits überstanden, denn der Baum stand nun endlich fachmännisch fixiert in einer Ecke des Wohnzimmers.

Der selbst gefällte Baum. Jedes Jahr fuhren wir mehr oder weniger direkt in den Wald (die Karten halfen nicht wirklich zur Orientierung) um den schönsten Weihnachtsbaum auszusuchen, zu fällen, und dann auf dem Autodach nach Hause zu transportieren. Kleinere Hindernisse bewältigten wir mit Bravour und wenn wir auch oft vollkommen verdreckt unser Ziel erreichten (die Reifen drehten meist durch, wenn wir den festgefahrenen Wagen aus dem Schlamm befreiten), schritten wir, einmal angekommen, würdevoll am Förster vorbei in die Tiefen des Taunus.

Nach vollendetem Werk bezahlten wir den Baum und zurrten ihn am Dachgepäckträger fest. Das lief nicht immer ganz glatt, denn ich erinnere mich noch genau an den Abend, and dem ich innerlich schon damit abgeschlossen hatte, Weihnachten wohl im Auto verbringen zu müssen. Einer der Insassen fixierte den Baum auf dem Autodach, indem er die Fenster öffnete, die Spanngurte hinduch und fest zog, so dass die Klemmschnalle sich weiter und weiter Richtung Autodach schob. Es war Zeit, loszufahren. Doch leider war der Autoschlüssel im Mantel meines Vaters, und der war sicher im Kofferraum verstaut. Raus konnten wir nicht mehr, denn die Klemmschnalle war nun unerreichbar irgendwo auf dem Autodach. Es wurde langsam dunkel und ich begann, laut um Hilfe zu rufen. Nach einigen gefühlten Ewigkeiten erschien unser Retter: ein Förster, der kopfschüttelnd den Kofferraum öffnete und uns den Mantel durchs Fenster reichte. Wir bedankten uns recht herzlich und fuhren nach Hause. Aussteigen konnten wir dort leider immer noch nicht, aber einige besorgte Nachbarn befreiten uns bald aus unserer misslichen Lage.

Nun mochte man schon triumphieren: „Wir sind noch mal davon gekommen“, aber ganz so einfach war Weihnachten nicht. Denn nun musste der Baum aufgestellt werden. Ein stabiler Christbaumhalter galt damals als kitschig und verpönt, und so stellten wir den Stamm in eine Dose mit Wasser. Der Baum stieß zwar an die Zimmerdecke und war so halbwegs stabil, doch es bedurfte noch einiger Nylonfäden, um ihn sturzsicher zu machen. Dann wurde er von allen begutachtet: „Sehr schön …“. Doch schon nach kurzer Zeit kam meine Mutter meist zu dem Entschluss, dass der Baum schief stand. Also schob sich mein Vater, flach auf dem Teppich, in Richtung Stamm und Dose, um jene zurecht zu rücken um dem ästhetischen Urteil meiner Mutter zu genügen. Auch wenn mir die Bilder noch klar vor Augen sind, weiß nicht mehr, wie oft es passierte … aber ich erinnere mich an Weihnachten, an denen wir meinen Vater drei Mal unter dem umgestürzten Baum hervorziehen mussten. Es wurde nie langweilig im Ulmenweg.

So bin ich froh, nicht mit ereignislosen Weihnachten aufgewachsen zu sein – bei uns war immer etwas los.

So schön wird Weihnachten nie wieder …

Susie Vrobel, Dezember 2011



Donnerstag, 17. November 2011

Wetterauer Geschichten Teil9

Zurück in der Wetterau (9)

Es ist Herbst in Bad Nauheim und die ein oder andere Nasenspülung mit Salz hilft über die ersten Erkältungen hinweg. Doch die Spülungen wecken auch Erinnerungen ganz anderer Art und lassen mich längst verdrängte Momente meiner Jugend noch einmal durchleben: Kaltes Wasser dringt in die Nase und Nebenhöhlen ein, Luftholen ist nur noch durch den Mund möglich, aber wenn auch der sich unter Wasser befindet, setzt ein Gefühl von Panik ein. Wann wurden diese neuralen Netze generiert, die durch einen einzigen Stimulus solch lebhafte Erinnerungen hervorrufen?

Anfang der Siebziger fand unser wöchentlicher Schwimmunterricht im alten Friedberger Hallenbad in der Haagstrasse statt. Wir drängelten uns links am Kartenschalter vorbei in die Umkleidekabinen, während unser Schwimmlehrer seinen Friedrich Willhelm in eine Liste eintrug. Das Umziehen dauerte knapp drei Minuten, und schon zwängten wir uns durch den schmalen Eingang zum Beckenrand. Ab jetzt herrschten theoretisch neue Regeln: kein Schubsen und kein Rennen mehr, da man leicht ausrutschen und auf die harten Fliesen fallen konnte. Die Praxis sah natürlich anders aus.

Der erste Schock stand gleich zu Beginn der Schwimmstunde an: die eiskalte Dusche an der Treppe des kleinen Nichtschwimmerbereichs. Ich erinnere mich noch gut an die schnatternden Gestalten, die sich nun in einer Reihe am tiefen Becken versammeln mussten: Sextaner in nassen Badehosen oder Bikinis, die fortwährend an den handelsüblichen, nie richtig sitzen wollenden Noppenschwimmhauben zerrten, and denen beim Ausziehen immer ein paar Haarbüschel hängenblieben.

Dann begann die Tortur: Unser Schwimmlehrer warf einen kleinen, massiven Gummiring ins Wasser, den niemand wirklich wieder herausholen wollte. Doch es gab kein Entrinnen. Und so sprang ein Kind nach dem anderen – mehr oder weniger graziös – in das kalte Wasser, um den Vollgummiring zu retten. Es war wirklich sehr tief – besonders, wenn man erst elf war – und das im Wasser gelöste Chlor brannte in den Augen. Nach einer Viertelstunde sahen wir alle aus, als hätten wir eine Nacht durchzecht.

Danach bildeten wir die zweite Schlange – diesmal ein paar Meter weiter rechts, vor dem Ein-Meter Brett. Hier trennte sich nun die Spreu vom Weizen: Zwei bis drei Feiglinge genügten, um den Rest der Klasse, in der Schlange vor Kälte schnatternd, von friedlichen Kindern in aggressive Bullies zu verwandeln (das Wort Bullies gab es damals noch nicht – es waren Rabauken oder Fieslinge: „Spring schon!“, „Feigling!“, „Muttersöhnchen!“, „Memme!“ ). Nach einigen gefühlten Ewigkeiten ging es dann endlich weiter, wenn die Memmen auf allen Vieren rückwärts auf dem Brett zurückkrochen und sich wieder hinten anstellten.

Danach schwammen wir „Bahnen“ und irgendwie erhielten alle am Ende des Schuljahres das Freischwimmer-Abzeichen, das fortan unsere Badehosen kürte. Doch bis dahin war es ein harter Weg. Woche für Woche erfüllten wir unser Soll. Die schöne Jugendstilarchitektur des Bauwerkes ging uns damals an der Badehose vorbei.

Erschöpft und mit nassen Haaren schleppten wir uns mit letzter Kraft zur Pommesbude in der Bismarckstrasse. Für sechzig Pfennig gab es dort eine Tüte Pommes rot-weiß, die nach der allwöchentlichen Tortur unsere wackligen Knie wieder standfest machte.

Kauend schlenderten wir auf der Ludwigstrasse in Richtung Augustinerschule, vorbei am Pali-Kino, ein uns damals riesig erscheinendes Gebäude, in dem Generationen von Schulkindern die Fauna jenseits der Wetterau kennen lernten. Gebannt starrten wir auf die Leinwand, wenn das Schicksal Namus, des Raubwals schon fast besiegelt schien. Bei manchen Filmen flossen ein paar Tränen, die jedoch schnell wieder weggewischt wurden, da man solche Schwächen lieber vor seinen Mitschülern verbarg. Doch als die Löwin Elsa am Ende wieder in den Weiten der Savanne verschwand, blieb kein Auge trocken. Und so hörte man die Titelmelodie von Born Free noch Tage nach dem gemeinsamen Kinobesuch im Schulbus und in der Schlange vor dem Hausmeisterkiosk.

Die Badekappen mit Noppen wurden Anfang der Siebziger dem flower power image angepasst und mit klebrigen Plastikblumen verziert, in denen sich nun noch mehr Haare verfingen. So ist das mit dem Fortschritt.

Wenn eines Tages, in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft, das alte Hallenbad in ungekannt trocknem Ambiente als Theater seine Türen wieder öffnet, werde ich mich wohl im Kreise einiger Besucher meiner Generation wehmütig der guten alten Zeit erinnern und in mehr oder weniger geistreichen Resumées Bilanz ziehen:

„Damals war es nasser.“

Susie Vrobel, November 2011



Sonntag, 30. Oktober 2011

Wetterauer Geschichten Teil8

Zurück in der Wetterau (8)

Ich habe mir beim Eisenreich auf der Kaiserstrasse ein Paar gelbe Chucks gekauft. Ein Einschnitt in meinem Leben, denn bisher trug ich dunkelblau – oder navy-blue, wie es heutzutage heißt. In meinem Schrank türmen sich über ein halbes Dutzend abgelaufener Schuhe jener Marke. Wegwerfen kann man sie nicht, da – wie jeder weiß – die von Sonne und Waschmaschine gebleichten Chucks mit eingerissener Gummisohle mit zunehmendem Alter immer wertvoller werden.

Früher gingen Schuhe nicht kaputt, da sie vor dem Zerfall bereits anfingen, zu drücken. Das war jedoch nicht weiter schlimm, denn in den Sechzigern waren Turnschuhe noch so erschwinglich, dass man die schnell wachsenden Füße sofort in ein neues Paar der gleichen Marke stecken konnte. Die Qual der Wahl kannten wir nicht, denn es gab nur eine Sorte:

In den 60er Jahren trugen alle Kinder die gleichen dunkelblauen Segeltuchschuhe mit der weißen Gummisohle. Keiner von uns hätte den Markennamen nennen können, es waren ganz einfach „Turnschuhe“. So sahen wir im Sportunterricht denn auch alle gleich aus: schwarze ärmellose Turnhemden, eine kurze Turnhose aus Baumwolle und dazu – das einzige Turnschuhmodell der Sechziger Jahre. Dies erklärte auch die Notwendigkeit, Namensschildchen in die Sportbekleidung einzunähen, denn vergaß man sein Turnhemd oder die Schuhe in der Umkleide, wären sie sonst im Fundus des Hausmeisters kaum zu identifizieren gewesen.

Turnschuhe waren definitiv keine Strassenschuhe: sie waren uncool und rochen nicht besonders gut. Und sollte trotz allem ein Kind in blauen Segeltuchschuhen auf der Strasse gesehen werden, war die Diagnose schnell gestellt: „Haha – dem haben sie die Schuhe in der Umkleide geklaut!“ Und so weinte keiner dem alten Paar eine Träne nach, wenn es denn begann, zu drücken.
Dies änderte sich erst Anfang der Siebziger, als wir bemerkten, dass man ganz wunderbar mit einem Kugelschreiber auf ausgebleichtes Segeltuch schreiben und malen konnte. Fast so gut wie auf verwaschene Jeans. Den nun folgenden Bekritzelungs- und Bemalungsorgien, in denen wir unsere tiefsinnigen Weltanschaungen, kunstvolle Kopien der Led Zepplin Alben und die Namen unserer Lieblings-Popstars auf Schuhen und Hosen verewigt hatten (auf den dunkelgrünen Parkas waren sie weniger gut lesbar), folgte nach einigen Wochen die Ernüchterung. Was tun, wenn die Lieblingsband plötzlich eine peinliche, grottenschlechte LP herausbrachte? Wegätzen ging nicht – dann hätte man ja ein Loch im mühsam verschönerten Leinenstoff. Gut, dass Tattoos damals noch nicht „in“ waren. Sonst gliche die Epidermis meiner Generation heute der Niki Laudas. Manch einer griff zu Domestos, doch die so entstandenen weißen Stellen wurden schnell spröde und rissen bei der nächsten Wäsche ein. Letztere konnte man in den 70ern getrost auf den nächsten Monat verschieben – dreckige Jeans waren überaus cool und fielen auch nicht weiter auf – doch irgendwann mußte man sich dem Zahn der Zeit stellen. Ganz arm dran waren die Mitschüler, die sich voreilig „Bay City Rollers“ mitsamt Schottenmuster auf die Schuhe gemalt hatten. Entweder versanken sie nach ein paar Wochen vor Scham in den Boden oder liefen den Rest des Schuljahres nur noch in Sandalen herum.


Mitte der Siebziger tauchten in Friedberg die knöchelhohen Versionen der Kultschuhe auf. Ich erinnere mich noch genau an mein erstes Exemplar – blau mit weißen Sternen – das ich bestimmt bis zum Abitur getragen hätte, hätte sich da nicht der Zwischenfall im Schullandheim auf der Seiser Alm ereignet. Nachdem wir unsere Ankunft ausgiebig gefeiert hatten, fielen wir todmüde in unsere Etagenbetten. Meine Freundin B., die es sich gerade im Bett über mir bequem gemacht hatte, unterrichtete alle fünf Zimmergenossinen prompt und detailliert über ihr Befinden („Mir ist so schlecht, ich glaube ….“). Die Ankündigung kam jedoch zu spät, denn im nächsten Moment sah ich ihren Mageninhalt im freien Fall an mir vorbei in meinen geliebten Turnschuhen landen. Da kam jede Hilfe zu spät: ich entsorgte die randvollen Chucks im Müllcontainer hinter der Hessenhütte und trug für den Rest der Klassenfahrt meine tonnenschweren Bergsteigerschuhe. Das gab kräftige Wadenmuskeln. Danke, B.!



Heute, so lese ich neuerdings, sind die sympathischen Segeltuchschuhe mit der weißen Gummisohle das understatement schlechthin. Ein understatement kostet übrigens schlappe 69 Euro. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, aber es wird immer teurer.

Susie Vrobel, Oktober 2011

Sonntag, 11. September 2011

Wetterauer Geschichten Teil7

Zurück in der Wetterau (Teil 7)

„Die Gesichtsfarbe ist nicht natürlich. So gelb-stichig.“
Ich werfe einen Blick auf mein Passbild. Eindeutig ich.
„Das können wir nicht nehmen.“
Die Tatsache, dass das gleiche Passfoto in meinen anderen Ausweisen ohne Beanstandungen eingeklebt wurde, hilft nicht. Also lasse ich beim Porst um die Ecke ein neues Photo aufnehmen und komme mit dem frisch ausgedruckten Bild zurück zum Bürgerbüro Bad Nauheim.
„Sieht dies mir ähnlich?“
Die Dame scheint zufrieden, legt es zu den Akten und ich atme auf. Nein, ich hatte nicht vor, diplomatische Immunität zu beantragen, sondern lediglich meinen Fischereischein erneuern zu lassen.

Manche Dinge ändern sich nie. Die deutsche Bürokratie ist alive and well. Mitte der Siebziger wurden mir im Rathaus der Stadt Friedberg bereits die ersten Weichen gestellt. Ich hatte vor, in meinem Reisepass meinen Künstlernamen eintragen zu lassen. Das war mehr als notwendig, da man damals – wie jeder wusste – „Susi“ mit „z“ und „y“ schreiben musste, um auf dem internationalen Parkett bestehen zu können. So wie Suzy Quatro. Eine Kleinigkeit – dachte ich. Doch der Herr im Amtszimmer stellt sich quer: „Sie müssen eine bekannte Persönlichkeit sein wie … wie …“  Er überlegte einen Moment: „… wie Annliese Rothenberger.“ Ich wurde blass um die Nase: es gab auch damals keine gemeinsame Gesprächsgrundlage.

Ob diese Behördenwillkür dazu beitrug, dass ich nie ein Rock-Star wurde, weiß ich nicht. Ich habe auch keine weiteren Versuche unternommen, den Herrn vom Amt zu überzeugen, denn die Furcht, dass ich als Künstlerin in einem Atemzug mit Anneliese Rothenberger genannt werden könnte, drehte mir den Magen um. Was tun? Ich konnte schlecht warten, bis die Dame den Löffel abgeben würde. Es musste noch andere Wege geben.

Ich sah mich nach neuen Wirkungskreisen um, und so küßte mich eines Tages jäh die Muse der bildenden Kunst. Meine erste Vernissage fand im Atelier Koppenhagen in Friedberg statt. Es war ein netter Abend mit Buffet und Gesangseinlagen – nicht nur viele alte Freunde kamen, sondern auch meine Großeltern. Mein Oma wusste zwar nicht genau, worum es bei einer Vernissage ging, aber sie amüsierte sich gut und konzentrierte sich hauptsächlich auf das Buffet. Es erschien ihr nicht schicklich, herumzulaufen und die Ausstellungsobjekte zu begutachten, uns so wurde mein Großvater heftig kritisiert. „Er läuft überall herum. So was von neugierig – wie ein Pudel!“ Lange nach Mitternacht, als vom Buffet nur noch ein paar Krümel übrig waren, fand sie, es sei nun an der Zeit zu gehen. Beim Verabschieden sah sie sich kurz um und fragte mich: „Hast du die gemalt?“

Die meisten Austellungsstücke jener Vernissage haben heute das Zeitliche gesegnet, da sie diverse Umzüge nicht überstanden haben. So sind mein Freischwinger-Stuhl mit Teddyarmen, mein kangaroo waiter und der Attraktor-Spiegel heute Geschichte. Aber es gab auch ermunternde Worte und ich habe an diesem Abend sogar zwei Bilder verkauft. Das erste an meinen Freund Loschi und das zweite an einen mir unbekannten Rechtsanwalt, der es für seine Kanzlei vorgesehen hatte. Letzteres war eigentlich eher ein Unfall. Damals waren Leinwände sehr teuer und ein misslungenes Bild wurde häufig übermalt. Bei besagtem Werk hatte ich bereits zum zweiten Mal die Farbe unter dem laufenden Wasserhahn mit einem Spülschwamm abgekratzt, als ich plötzlich Gefallen an dem übrig gebliebenen Gemisch auf der Leinwand fand. Das Kunstwerk hängt wahrscheinlich immer noch in einer Friedberger Kanzlei.

Und wenn eines Tages in ferner Zukunft Schüler eine Werkanalyse dieser nicht-ganz-abgeschrubbten Leinwand vornehmen müssen, hoffe ich, dass ich aus fernen Gefilden dieses hoffnunglose Unterfangen amüsiert beobachten kann. So hätte ich die gefürchtete Anneliese-Rothenberger-connection elegant umgangen und wäre – wenn auch nicht als Rock-Star – bei dem Herrn im Rathaus legitimes Beispiel für einen Künstlernamen. Sehr zum Entsetzen der neuen Generation.

Damals hatte man noch Geschmack.


Susie Vrobel, September 2011

Sonntag, 7. August 2011

Wetterauer Geschichten Teil6

Zurück in der Wetterau (6)

Neulich kaufte ich bei Rewe in Bad Nauheim Getränke für meine Geburtstagsparty ein. Nachdem ich bezahlt hatte, überreichte mir die Kassiererin wortlos einen Stapel Papiertütchen mit bunten Tierbildern. Sie bemerkte meinen verwunderten Blick und raunte: „Fürs Album!“ Ich bedankte mich und packte sie ein. Sie liegen noch immer ungeöffnet irgendwo auf meinem Schreibtisch. Denn heute bin ich immun gegen das Sammelfieber.

Das war nicht immer so. 1970 erlag ganz Friedberg – inklusive Susie Vrobel – dem Charme eines neuen Produkts. Das Objekt der Begierde war ein Tütchen mit Americana-Bubblegum und 3 Klebebildern, das wir für 10 Pfennig im Lekkerland in der Haagstraße gegen unser Taschengeld eintauschten. Das Album gab es gratis dazu. Wir öffneten die Tütchen und pressten sofort unsere Nasen auf die Bilder, die einen unwiderstehlichen Geruch ausdünsteten. Ich nehme an, es war eine Mischung aus Spearmint und Formaldehyd. Nach dem Inhalieren kauten wir den Bubblegum und verstauten die Bilder vorsichtig in der Hosentasche.

Unsere Sammelalben füllten sich schnell, doch nach ein paar Wochen hatte ich einen beträchtlichen Überschuss an Kaffernbüffeln. Die waren aber prakisch nicht mehr tauschbar, da alle anderen Kinder zu Hause ebenfalls Stapel von Kaffernbüffeln und Alligatoren horteten. Und egal, wie oft wir uns neue Tütchen erquengelten, die Verteilung der Fauna war höchst unausgeglichen: In meinem gesamten Bekanntenkreis fehlte allen die Zirkade – ich glaube, Americana hat nie mehr als 2 Exemplare dieses Abziehbildchens gedruckt.

Und so hatte jedes Kind 1971 ausgebeulte Hosentaschen, aus denen die Klebebildchen bei jeder Gelegenheit sofort griffbereit herausgezaubert wurden. Im Pausenhof war nicht genug Zeit, uns so verlagerten wir die Tauschbörse in den sonntäglichen Kirchenbesuch. Mein Bruder und ich waren zwar nicht fromm, aber wir gingen fast ein ganzes Jahr hin, weil meine Oma es so wollte – sie war besorgt, wir könnten als Heiden aufwachsen. Was das genau war, wußte ich zwar nicht, aber ich fügte mich gern, da wir nun in aller Ruhe unseren Tauschgeschäften nachgehen konnten.

Für Außenstehende müssen wir damals sehr fromm gewirkt haben. Doch unsere Köpfe waren nicht in Demut geneigt, sondern über die Stapel von Klebebildern. Und das kaum wahrnehmbare mantra-ähnliche Gemurmel der 9-jährigen in der hinteren Reihe war bei näherem Hinhören auch kein Rosenkranz-Gebet – wenn es auch sehr repetitiv klang - sondern: „Hab’ ich, hab’ ich, hab’ ich, ….hab ich nicht!“ So kam es doch zur ein oder anderen Erweiterung der Sammlung, doch die Zirkade habe ich niemals gesehen.

Die Friedberger Esso Tankstelle war damals ein weiterer Quell der Sammlerwut. Die Alben waren nicht einfach mit Heftzwecken zusammengetackert, wie die Americana-Vorläufer, sondern ordentlich gebunden und mit einem Hochglanz-Einband versehen. Ich war stolze Besitzerin dreier Alben: Tiere, Tierkinder, und Hans Hass: Vorstoß in die Tiefe (ohne Monster). Eine ganze Generation von Schulkindern brachte damals ihre Eltern und Großeltern dazu, von Shell auf Esso umzusteigen.

Doch Esso hatte noch mehr zu bieten: Anfang der 70er bekam man pro 20 Liter Benzin ein Tütchen mit Briefmarken aus aller Welt. Sie waren, glaube ich, nicht gestempelt und riefen in uns ein nie gekanntes Fernweh hervor. Da gab es dreieckige Marken aus der Zentralafrikanischen Republik und auch kleine blaue aus Mauritius, die allerdings keine müde Mark wert war. Aber man konnte ja nie wissen, und so verglichen wir vorsichtshalber unsere Schätze mit den Abbildungen im Sammlerlexikon. Ich weiß bis heute nicht, wie die Shell-Tankstelle gegenüber diese Zeit überlebt hat.

Meine Sammlerwut nahm in der Pubertät jedoch ein abruptes Ende, da es von nun an aufregendere Dinge zu beäugen gab. Das war auch gut so, denn so konnte ich mich leichten Herzens von den Briefmarken trennen, als ich sie meinem Bruder verkaufte, um meinen Deckel im Lascaux bezahlen zu können.

Heute stapeln sich in meinen Schubladen weniger ansprechende Sammlungen: die Kontoauszüge der letzten Jahre und Quittungen für den Steuerberater.

And so it goes …

Damals sammelten wir noch etwas Vernünftiges.


Susie Vrobel, August 2011


Donnerstag, 28. Juli 2011

Wetterauer Geschichten Teil5

Zurück in der Wetterau (5)

In Bad Nauheim werden die Stockenten immer weniger. Warum? Diese Frage, die sich jedem Spaziergänger aufdrängt, wurde kürzlich in der Wetterauer Zeitung beantwortet: Die (eigentlich nicht heimischen) Nilgänse, die sich im hiesigen Kurpark genüßlich vermehren, verdrängen die einheimische Spezies. Dem Lokalreporter gebührt Ehre, sich dieses Rätsels angenommen zu haben und uns aufzuklären.

Doch gewissenhafte Recherchen gab es bereits in grauen Vorzeiten. Ende der Siebziger entnahm ich unserem lokalen Revolverblatt, dass in Nieder-Weisel ein UFO gelandet war. Doch leider blieb es nicht lange. Entweder fanden die Außerirdischen den Planeten zu lebensfeindlich, oder sie fürchteten sich vor der öden Konversation mit dem Förster. Egal – sie suchten auf jeden Fall sofort wieder die Weiten des Universums auf. Der Förster hingegen hatte wohl viel Zeit, denn er alarmierte nicht nur die Polizei, sondern gleich darauf auch den Lokalreporter.

Auch wenn die Geschichte wohl für die meisten Leute zum Himmel stank, nahm ich mir vor, der Sache auf den Grund zu gehen. Denn man weiß ja nie, und die Gefahr, sich lächerlich zu machen zählt nicht für einen wahren Wissenschaftler. Mein Schulfreund Chippy begleitete mich auf der Fahrt nach Nieder-Weisel. Oder, besser gesagt: in den Forst der Ortschaft, wo – jwd – ein Forsthaus stand, mit dessen Inhaber ich telefonisch einen Interview-Termin ausgemacht hatte. In dem alten VW-Käfer hatten wir das Nötigste verstaut: Notizblock und Stifte, sowie einen Spaten und alte Plastiktüten für die Bodenproben.

Ich hatte mir keinerlei Gedanken gemacht, was ich wohl nachweisen könnte, doch es erschien mir einfach schicklich, Bodenproben zu entnehmen, da das so wunderbar wissenschaftlich klang. Mit meinem selbstgebastelten Ausweis in der Tasche, der mich – als Ufologin – autorisierte qualifizierte Fragen zu stellen, fuhren wir los.

Chippy wartete draußen, während ich am Forsthaus klingelte, mich vorstellte, und den Förster interviewte. Ich hatte ein schon etwas älteres Semester vor mir, und die Konversation war, gelinde gesagt, eher zäh. Trotzdem schrieb ich all die Dinge nieder, die ich mir auch zu Hause aus den Fingern hätte saugen können: ein helles Licht, ein komisches Geräusch und das Raumschiff auf der Wiese hinter dem Haus. Ich bat ihn, mir die Stelle zu zeigen und er ging bereitwillig hinaus und zeigte mir den Landeplatz. Auch gegen die Entnahme von Bodenproben hatte er nichts. Ich bedankte mich und und fing an, den Spaten in den harten Boden zu stechen.

Mit einem halben Dutzend gefüllter Plastiktüten fuhren wir dann zum Augustinergymnasium, wo ich die Proben zu untersuchen gedachte. Ich erklärte meinem Physiklehrer, dass ich Zugang zum Labor im Keller des ehemaligen E1 benötigte, um meine wissenschaftlichen Untersuchungen zu beginnen. Er war sehr kooperativ und so ließen wir zuächst den Geigerzähler über die Proben streichen. Keine ungewöhnlicher Teilchenzerfall. Auch sonst waren keine signifikanten Überraschungen festzustellen. Ein leeres Gefühl beschlich mich – ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber ein so rein gar nicht ungewöhnliches Resultat war doch sehr ernüchternd. Nun gut. Ich bedankte mich für die freundliche Unterstützung und schleppte die Bodenproben wieder hinauf. Was nun – welche Untersuchungen hatten wir bisher ausgelassen? Wichtige Fragen. Womöglich existentielle Entscheidungen. Doch mittlerweile war es 2 Uhr nachmittags und mein Magen fing an, zu knurren. Und so beschloss ich, die Wissenschaft Wissenschaft sein zu lassen und warf die hart erschaufelten Beweise in die Müllcontainer der Schule (in den Siebzigern gab es noch keine Mülltrennung).

Damals ging man den Dingen noch auf den Grund.


Susie Vrobel, Juli 2011

Montag, 25. Juli 2011

Wetterauer Geschichten Teil4

Zurück in der Wetterau (4)

Auf allen Kanälen wurde in diesen Tagen die Ära des space shuttle zu Grabe getragen. Mit viel Wehmut und Nostalgie. Ich erinnere mich an den ersten Flug – damals verfolgte ich ihn während meiner au-pair Zeit in Paris – aber la navette spatiale berührte mich kaum, da für mich diese Missionen niemals die Aufbruchstimmung der späten Sechziger auch nur annähernd hervorriefen. Denn die space shuttle Flüge dienten einem anderen Zweck, und dieser war überschaubar und sprengte keine frontier.

Der Sommer der ersten Mondlandung hingegen war ein Einschnitt im Leben meiner Generation. Auch wenn viele meiner Freunde später ihre Zimmer mit So what?-Postern ausstatteten, war die Apollo 11 Mission für mich immer eines der inspirienendsten Ereignisse meines Lebens. Die Sommertage im Juli 1969 waren warm und lang und wir standen im Garten meiner Großeltern in Friedberg und sahen uns den Mond an, noch ganz benommen von den im Fernsehen live übertragenen Ereignissen. Dort oben betraten vor nur ein paar Stunden Neil Armstrong und Edwin Aldrin als erste Menschen den Mond. Er sah zwar so aus wie immer – doch wir alle wußten, dass er für uns nie mehr derselbe sein würde. Denn von nun an, so dachte ich, würden wir alle die Fußspuren, die Landespuren des Eagle und die Flagge dort sehen können – wenn wir nur ein besseres Teleskop hätten.

They came in peace – for all mankind. Ich wußte damals nichts über das space race, das der Sputnik und Juri Gagarins Flug ausgelöst hatten. Auch dass er the world of art and Anna Magnani aus dem All grüßte, lernte ich erst viel später. Damals hatte es mir die wunderschöne Figur der Saturn V angetan und ich fühlte mich plötzlich als ein Teil der Menschheit, die dieses Abenteuer in Angriff genommen hatten. Und so war damals der nächste Schritt für mich sonnenklar: Ich wollte Astronaut werden.

Meine Begeisterung war so groß, dass ich selbstgefertigte Zeitungen an die Nachbarn verteilte, die das große Ereignis dokumentierten. Dazu schnitt ich aus allen Illustrierten und Zeitungen Artikel aus, klebt sie zusammen, tackerte sie zu 4-seitigen Publikationen zusammen, und ging hinunter zur Wiese zwischen den Häusern in der Taunusstrasse, um die Menschheit aufzuklären. Es dämmerte mir damals nicht, dass meine Nachbarn vielleicht ebenfalls die Nachricht vernommen haben könnten. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund dachte ich, dass der Rest der Menschheit in Unwissenheit versauerte und ich folglich die neue frohe Botschaft verkünden müsse. Nun, ich war erst 8, und so bedankten sie sich schön und blätterten freundlich durch die Seiten, doch die Neuigkeiten haute sie nicht gerade aus den Socken.

Fortan besann ich mich auch weiterhin auf Reportagen, da man mir früh klarmachte, dass ich niemals selbst an einer Mission teilnehmen würde. Meine Grundschullehrerin Frau Blochwitz zerbrach meine Karriereträume mit der schlichten Feststellung, dass die Nasa keine Mädchen als Astronauten ausbilden würde. Ich verstand die Welt nicht mehr und war mehr als gekränkt. Doch der Lehrkörper war richtig informiert: Ende der Sechziger war die Raumfahrt eine Männerdomäne.

Die Mondlandung hatte auch großen Einfluss auf das Familienleben. Denn das neu erwachte Interesse an Weltraummissionen führte zu einem direkten Konflikt der Generationen. Schuld war die Programmgestaltung von ARD und ZDF – dem „richtigen Fernsehen“ und dem zweiten Kanal (das dritte Programm war erst in den Kinderschuhen). So lief just zu der Zeit, in der die Lieblingssendung meines Vaters ausgestrahlt wurde – die Sportschau – auf dem anderen Kanal „Raumschiff Enterprise“. Ein tragischer Konflikt, denn ich liebte die Helden der Serie. Weniger Captain Kirk, sondern Spock, der sich trocken – cool, calm and collected – den Mysterien und Gefahren des Universums stellte. Wenn ich durch gezieltes Quengeln doch einmal in den Genuss der Serie kam, so bekam ich schon beim Mitsprechen des Vorspanns eine Gänsehaut: „Viele Lichtjahre von der Erde entfernt dringt die Enterprise in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.“

To boldy go where no man has gone before. Die deutsche Antwort auf Star Trek war Cliff Allistar McLanes schneller Raumkreuzer Orion. Dessen Abenteuer wurden jedoch spät am Abend ausgestrahlt, lange nach dem Sandmännchen, und so sah ich erst in späteren Jahren, wie sich Dietmar Schönherr, ohne mit der Wimper zu zucken, über die ein odere andere Alpha-Order hinwegsetze und sein Schiff mit Hilfe eine Bügeleisens durch ferne Raumsektoren navigierte.

Und so gehöre ich auch heute noch der ersten Star Trek Generation an und an die Apollo-Missionen erinnert mich ein 1,5 Meter großes Modell der Saturn V in meinem Wohnzimmer. Die Nachrichten über den letzten Flug der Atlantis ließen mich kalt, denn es fehlte der Kick der Aufbruchstimmung der späten Sechziger. Die Unfälle der space shuttle missions haben nichts damit zu tun. Auch die Apollo Flüge hatten ihre Opfer zu beklagen, auch wenn sie oft glimpflich davon kamen. Im Religionsunterricht mussten wir damals für die Astronauten der Apollo 13 Mission beten. Es schien wohl geholfen zu haben, denn außer einer Blasenentzündung kamen sie relativ wohlbehalten wieder an.

Würde ich heute zu einer Weltraummission eingeladen, so kämen mir möglicherweise Bedenken, die ich den Sechzigern noch nicht hatte. Denn damals kannte ich noch nicht die Unpässlichkeiten einer Blasenentzündung. Heute schon. So bin ich denn hin- und hergerissen zwischen wollenen Unterhosen und the final frontier.

Früher gab es halt noch durchbrechbare Grenzen.


Susie Vrobel, Juli 2011

Mittwoch, 20. Juli 2011

Wetterauer Geschichten Teil3

Zurück in der Wetterau! (3)

In Willy’s Pub in Bad Nauheim wird in diesem Jahr der 35. Geburtstag gefeiert (des Pubs, nicht Willys). Dort trinke ich regelmäßig meinen Barbera und lese Manuskripte oder Bücher. Ab und zu treffe ich Freunde. Es ist also das, was man als meine neue Stammkneipe bezeichnen könnte.

In Friedberg habe ich bisher keinen solchen Ort gefunden. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich in meinem früheren Leben jeden freien Abend im Lascaux verbrachte, mit dem es bis heute kein Etablissement aufnehmen kann. Gewiss, es waren andere Zeiten und ein Vergleich fällt schon auf Grund der Übersetzungsprobleme schwer, denn die Stimmung im Lascaux war damals nicht cool, sondern dufte.

Meine geliebte Stammkneipe befand sich in einem Keller in der Kleinen Klostergasse. Da es offiziell ein Club war, ging man nicht einfach hinein, sondern drückte zuerst einen verklebten Klingelkopf, neben einem silbernen Schild, das mit der Aufschrift „Off Limits“ versehen war. Ein Brummton ertönte, man drückte die schwere Stahltür auf, ging die Stufen hinab und öffnete den schweren, von Zigarettenrauch und Staub durchtränkten Vorhang. Im nächsten Augenblick stand man im Paradies der Siebziger Jahre: Musik und Qualm, ein Wirrwarr von Gesprächen und Gelächter, das Klopfen der Würfel in den Bechern der Mäxchenspieler, das Klirren der Biergläser und die alles übertönenden Bestellungen der Gäste: „Norbert, machst du mir noch ein Bier?“


Natürlich gab es auch Höhlenzeichnungen im Lascaux: gewissenhaft eingeritzte Kopien der gleichnamigen Höhle in Südfrankreich. Sie vermittelten eine Atmosphäre der Zeitlosigkeit, die sich auch auf unser Trinkverhalten auswirkte. Denn konnte man heute nicht zahlen, so musste man das auch morgen nicht tun. Doch am Ende des Monats wurden dann die vielen Striche auf dem Deckel zusammengerechnet und die Rechnung wurde beglichen. Oft ging dies nicht, ohne Abschied zu nehmen von liebgewonnenen Dingen, die man zu Geld machen musste. So besitzt mein Bruder noch heute eine beachtliche Briefmarkensammlung, zahllose LPs und auch meinen Chemie-Experimentierkasten. Doch wir sangen Live for Today, denn unser Frontallappen war ja noch nicht vollständig ausgebildet. Meine Freundin hatte das damals mit dem überall eingeritzten Carpe Diem nicht ganz verstanden – sie glaubt bis heute, es bedeutet „Warnung vor dem Hund“.

In jenen Tagen war das Lascaux proppenvoll. Wir quetschten uns durch die engen Gänge zwischen der Bar und den mit Fellen bedeckten Bänken und Holzklötzen in die hinteren Räume. Teenager tümmelten sich neben älteren Semestern, wie Klaus Adomeit aus Fauerbach, der freizügig selbstgedrehte spendierte und uns vom Krieg erzählte. Man quetschte sich mit einem freundlichen, aber bestimmten „Rück’ mal“ auf die Sitzbänke, meist zunächst nur mit halbem Hintern. Im Laufe des Abend schob man sich dann bei jeder Gelegenheit weiter, bis man in Reichweite eines der kleinen Holztische war und an existentiellen Diskussionen oder einem Mäxchen-Spiel teilnehmen konnte. Gewürfelt wurde jeweils um ein Glas Apfelkorn, das, einmal geleert, in die der früheren Gewinner gestapelt wurde. So füllten zu fortgeschrittener Stunde architektonische Meisterwerke die Tische in Form von Türmen aus leeren Gläschen, die sich bedrohlich zur Seite neigten, je mehr sie anwuchsen. Man verharrte den Rest des Abends in einem Mikrokosmos, in den die Außenwelt nur ab und zu eintauchte. Die etwas lautern Stücke der Easy Rider LP waren ab und zu auszumachen, den Rest erdrückte das Stimmengewirr. Doch gab es manchmal – urplötzlich – auch ruhige Momente, in denen die Musik vernommen werden konnte. Dann ergriffen wir umgehend die Gelegenheit, Don’t Bogart That Joint, my Friend mitzusingen.


Wir befanden uns zwar schon im Keller, doch es ging noch tiefer hinab. Und in just diesem sous-sous-sous Terrain fanden die Sessions statt. Auch ich brachte hin und wieder meine Gitarre mit. Da saßen der Schlumpf und Stefan Schreckenberger, der Obi ohne Schlagzeug und viele andere, derer Namen ich mich nicht erinnere. In den vollkommen verqualmten neun Quadratmetern hörte man manch ganz passable Darbietung, doch auch grottenschlechte Interpretationen. Das störte aber niemanden und als das sous-sous-sous Terrain wegen feuerpolizeilicher Beanstandungen geschlossen wurde – es wurde nicht nur geschlossen, sondern regelrecht verbarrikadiert – prosteten wir oft mit Wehmut dem Bretterverschlag zu, hinter dem die Treppe zum paradise lost begann.  

Später wurde es dann immer ruhiger in meiner Stammkneipe. Man konnte die Musik klar und laut hören und fuhr erschrocken zusammen, wenn der Klingelton ertönte. Dann sah man gebannt auf den schweren Vorhang, um zu sehen, wer sich in diesem Keller verlaufen hatte. Oft erschienen die Figuren nicht ganz – ein paar Hände und Arme waren zu sehen, die den Vorhang ein wenig beiseite schoben, ein Kopf, der kurz um die Ecke blickte, und dann schnell wieder verschwand. Meine Teenagerzeit endete und auch die Lascaux-Tage waren Ende der Siebziger bereits gezählt, als ich Friedberg verlies. Die letzten Wehen und die endgültige Schließung bekam ich nicht mehr mit.

Vor zwei Wochen ging ich durch die Kleine Klostergasse. Der ehemalige Eingang war nicht wiederzuerkennen. Kein „Off Limits“-Schild, kein Anhaltspunkt. Waren es wirklich nur drei Schritte bis zur Strasse? Nein. Haben wir uns damals durch diesen dunklen, engen Gang zur Eingangstür vorgetastet? Hm. Das einzige Licht, an das ich mich erinnern kann, waren die allabendlichen blauen-weißen Scheinwerfer der Jeeps: die MP versuchte, mehr oder weniger erfolgreich, ihre GIs von gewissen Etablissements fernzuhalten. Ohne Zeitmaschine kann ich diese Fragen nicht mehr beantworten. Doch als alter Pfadfinder vermute ich, dass wir weder auf Licht noch Wegweiser angewiesen waren – wir folgten unserer Nase.

Damals konnte man seine Stammkneipe sogar im Dunkeln finden.

Susie Vrobel, Juli 2011


Dienstag, 19. Juli 2011

Wetterauer Geschichten Teil2

Zurück in der Wetterau! (2)


„… un mir habbe dem Mörler Ernst sein Dreck uff de Gass.“
„Un kaahner säscht was.“
„Außerm Erhard.“
„Ei, der mäscht doch aach nix. Schwätzt bloß dumm erum.“
„Un kaahner mäscht de Dreck eweg.“

Taufrische Einsichten in die Topthemen des Tages bekommt man gratis im Café Kissler auf der Kaiserstrasse. Über einer Tasse Tee verfolge ich das Gespräch der erhitzten Gemüter am Nebentisch. Bald wendet sich das Gespräch vom Thema Mörler Ernst zu Dreck im Allgemeinen. Ja, früher lag nicht so viel Dreck herum. Da hat man vor der eigenen Tür gekehrt. Nur Mörlers hatten es angeblich nie so genau genommen. Die kenne ich zwar nicht, und wenn ich vierzig Jahre zurückdenke, erscheinen zunächst nur einige mehr oder weniger klare Bilder vor Augen. Die sich jedoch erstaunlich schnell verselbstständigen.

Wie jeder weiß, war die Welt in den Sechzigern noch in Ordnung. Man konnte vom Bürgersteig essen. Und die ‚Himmel und Hölle’ Hickelkästchen, die wir als Kinder auf den Asphalt malten, waren garantiert Eintagsfliegen, denn am nächsten Morgen waren sie bereits vor Schulbeginn weggeschrubbt. An Dreck auf dem Bürgersteig kann ich mich nicht erinnern, und wenn es ihn doch gab, so beherrschte er für uns Kinder nicht das Strassenbild.

Doch es es ist nicht Sauberkeit, die die damalige Zeit prägte – gewiss, die alltägliche Zerstörung unserer Hickelkästchen zeigte die Grenzen unseres künstlerischen Schaffens auf. Doch es gab eine weitaus präsentere Tugend, die uns damals als Kindern zu schaffen machte: es herrschte Ruhe. Und diese wurde mit allen Mitteln aufrecht erhalten. Das Stören der Mittagsruhe von 13 bis 15 Uhr war ein Sakrileg. Um Punkt ein Uhr ertönte der letzte Ruf: „Fischer, Fischer, welche Fahne weht heute?“ und alle Spieler wurden von ihren Müttern ins Haus gerufen. Theoretisch hätte man zwei Stunden später weiter spielen können, aber dann war es schon fast Zeit für den Fernsehhund – das konkurrenzlose Entertainment einer ganzen Generation. Wie gebannt verfolgten wir die packenden Abenteuer der Colliehündin und ihrem Freund Timmy, der nach jedem Bellen hilfreich übersetzte: „Lassie will uns etwas sagen …“

Und brav waren die Kinder damals natürlich. Kleinere Steine des Anstosses wurden wegglobalisiert. Die Klagen der direkten Nachbarschaft, dass meine Weibergschneckenzucht sich auf deren Fensterscheiben häuslich eingenistet hätten kamen zwar prompt. Aber ebenso schnell war das Problem gelöst, indem ich die Tiere dreihundert Meter weiter zur Endlagerung in Abendroths Garten umsiedelte. Sie wissen bis heute nicht, warum ihre Gartenkräuter damals so plötzlich verendeten.

Ja, die Sechziger. Von 1967 bis 1971 besuchte ich die damals neu gegründete Phillip-Dieffenbach-Schule. Der erste Schultag war zunächst etwas öde, weil die Erwachsenen in der Aula endlos lange Reden hielten. Danach ging es dann in die Klassen und ich wünschte mir den Augenblick herbei, in dem ich endlich meine Zuckertüte öffnen konnte. Am Nachmittag fragte man mich, wie ich die neue Schule fand, und ich erwiderte diplomatisch: „Ja, ganz schön.“ Was ich jedoch damals aus einem unerfindlichen Grund nicht mitbekommen hatte, war, dass ich von nun an täglich für die nächsten vier Jahre dort auftauchen musste. Wenn man sieben ist, bedeutet das „fast für immer“.

Der Schock sass tief, doch ich gewöhnte mich schnell ein und gewann nach kurzer Zeit ein hohes Ansehen als Stärkste der Klasse. Ob ich das wirklich war, weiß ich bis heute nicht, doch die Jungs, die ich damals in den Schwitzkasten nahm, verbreiteten die Nachricht wie ein Lauffeuer. Denn jedes meiner Schwitzkastenopfer wußte von dem gefürchteten Muskelreiten zu berichten und auch dem I-Tüpfelchen der damaligen Kampfkunst: das Spucken von oben herab auf den Gegner.

Schleimern wurde kurzer Prozess gemacht. Der Junge, der meiner Lehrerin Frau Blochwitz allmorgendlich die Tasche in den ersten Stock hinauftraug, ahnte nichts, als ich ihm die Tasche wegriss und damit die Stufen herauf rannte. Die tote Spitzmaus, die ich auf dem Schulweg gefunden hatte und sorgsam in meinem Schreibmäppchen verstaut hatte, fand so in Windeseile ihren Weg in Frau Blochwitz’ Tasche, die ich sodann auf ihrem Pult deponierte. Jetzt war der Schleimer dran – dachte ich. Sie kam, öffnete ihr Tasche, doch anstatt der erwarteten Ohnmacht oder Schelte des Schleimers rief sie nur „Susie!“ Das gab mir dann doch zu denken.

Aber nicht für lange. Denn die aufregende Neuigkeit von einem Affenmenschen, der in nicht allzuweiter Ferne sein Unwesen treiben sollte, ging mir nicht aus dem Kopf. Bald erspähte ich ihn überall – in Unterholz, hinter Ruppenthals Garage und schließlich – neben dem Feld hinter der Phillip-Dieffenbach Schule, das damals noch nicht bebaut war und im Winter zum Schlittschuhlaufen genutzt wurde. Dort sah’ man – ganz klar – die Silhoutte des schlafenden Affenmenschen auf einem umgepflügten Feld. Oder besser: zunächst sah nur ich die furchterregende Gestalt. Doch nachdem ich meine Mitschüler eingeweiht hatte, waren auch sie so überzeugt, dass sie sich nach Schulschluss nicht mehr nach Hause trauten. Den Pädagogen, die ihnen erklärten, dass es sich nur um einen Berg Zuckerrüben handelte, wurde kein Glauben geschenkt. So mussten denn die genervten Eltern der ABC-Schützen ihre Spößlinge am Nachmittag mit oder ohne Auto abholen.

Bestraft wurde man schon. Ich musste nach mancher Laubschlacht desöftern den Schulhof kehren, denn es gab immer irgend jemanden, der die Klappe nicht halten konnte, wenn die gefürchtete Frage gestellt wurde: „Wer hat das angestiftet?“ Doch insgesamt machte der Unterricht Spaß, und man fand schnell heraus, was gern gehört wurde. Es war leicht durchschaubar, was im Verkehrsunterricht Eindruck schinden würde. Und so schloss ich die Beschreibung meine Schulwegs mit dem Satz: „Ich warte, bis es grün ist und dann schaue ich trotzdem noch mal nach rechts und links, ob vielleicht ein Autofahrer die Ampel nicht gesehen hat.“ Frau Blochwitz fand das – erwartungsgemäß – sehr wichtig und bat mich, den letzten Satz noch einmal vorzulesen. Das ging zwar hart am Schleimen vorbei, kompensierte jedoch meine faux pas. Und so gelang es mir, trotz meiner grottenschlechten Handarbeiten und allzu lebhafter Phantasie, die Grundschule zu meistern.

Doch wir bildeten uns auch außerhalb der Grundschule weiter. Die Illustrierten meiner Großmutter waren eine wahre Fundgrube. So erfuhr ich, dank eines Artikels über die Kommune 1, dass Gruppensex jetzt „in“ ist. Ich hatte keine Ahnung, was Gruppensex ist, verkündete die frohe Botschaft jedoch gern an alle Mitschüler, die es hören wollten. Panik brach aus unter den Pädagogen. Eine Lehrerkonferenz wurde einberufen. Meine Eltern mussten zur Schule kommen und die Sache klären. Die Episode endete mit einem langen Vortrag für mich und die dringliche Bitte an meine Großmutter, uns Kinder fortan zu verbieten, ihre Frau im Spiegel, Das Goldene Blatt und ähnliche Publikationen anzusehen.

Ahoi Brausepulver gab es schon damals. Es war Teil eines überaus wichtigen Rituals, in dem man seinen Mitschülern Freundschaft und bedingungslose Loyalität versprach. Das ganze verlief folgendermaßen: Zwei Grundschüler teilten sich ein Päckchen Ahoi Brause und rieselten es auf die meist nicht ganz sauberen Handflächen. Dann spuckte man auf die jeweils andere Hand, so dass das Pulver begann, wunderbar zu schäumen. Der endgültige Freundschaftsbeweis bestand nun darin, das schäumende Pulver aus eigenen Handfläche heraus zu lecken. Wir haben es alle überlebt und erfreuen uns heute eines robusten Immunsystems.

Im Café Kissler leert sich der Nebentisch, doch die Bilder meiner Grundschulzeit sind mir noch klar vor Augen. Eines morgens, als ich nach meiner Masern-Pause wieder in die Schule kam, sangen alle das Lied von „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“. In jeder Strophe wurden alle Vokale durch einen einzigen ersetzt, was ich damals allerdings nicht wusste. „Dri Chininsin mit dem Kintiribiss …“ Ich war verzweifelt, da ich glaubte, die anderen hätten während meiner Abwesenheit eine andere Spache gelernt, derer ich nun nicht mächtig war. Auch wenn sich die Sache schnell aufklärte, erinnere ich mich noch immer an die Panik, die mich beschlich, dass ich etwas verpasst haben könnte, und dass ich von nun an nicht mehr mitreden könnte.

Doch ich liebte es, Gedichte und Lieder auswendig zu lernen, und so holte ich schnell auf. Noch heute kann ich die Werbeslogans der Sechziger rezitieren. „Wahre Schönheit kommt von innen – Merz Spezial Dragees“, „Wer wir denn gleich in die Luft gehen – greife lieber zur HB!“, „Nicht auszieh’n – nur ansprüh’n!“

Und dann war da noch der unvergessliche Zweizeiler aus dem Schuhgeschäft:

„Lange schallt’s im Walde noch:
Salamander lebe hoch!“

Früher konnten die Leute halt noch reimen.


Susie Vrobel, Juni 2011

Wetterauer Geschichten Teil1

Zurück in der Wetterau! (1)


„Ein Eichhörnchen!“
„Wo denn?“
„Da! Da! Da!”
“Ich hab’s sogar ohne Brille geseh’n!”

Ich bin wieder hier. Nach einem viertel Jahrhundert. Die Kurgäste schieben ihre Rollatoren energisch in Richtung Schweizer Häuschen. Die erste Rast des Tages. Bei einem Eiscafé werden die Neuigkeiten über das neue Hüftgelenk ausgetauscht. Gnädig legt sich die Melodie des Querflötenspielers über die blutigen Details. „Midnight“ aus dem Musical „Cats“. Der Musiker ist fester Bestandteil des Kurparks, so wie die Eichhörnchen und Paddelboote. Letztere sehen allerdings nur diejenigen, die die weiteren 300 Meter zum Teichhaus meistern.

Das Teichhaus ist ein kleines Restaurant direkt am See. Es kommen schon lange keine wohlbetuchten Araber mehr und der letzte Besuch der russischen Zarenfamilie liegt nun schon ein Jahrhundert zurück. Das neue Klientel nutzt die Gelegenheit, die mühsam erkämpften Erfolge der ReHa mit einem Schnitzel Wiener Art zunichte zu machen.

Ein Kraxeln ertönt, zunächst leise, kaum bemerkbar. Niemand scheint sich daran zu stören. Doch es hört nicht auf, wird bedrohlich lauter und lauter. Ich drehe mich um und erkenne im Augenwinkel eine Rotte Nordic Walkers, die sich ihren Weg über die neu angelegten Pfade bahnt wie Colonel Hathis Frühpatrouille aus dem Dschungelbuch. Mit einem gewagten Sprung in die Grünanlagen bringe ich mich in Sicherheit. In Kassel hatten wir uns noch über diese neue Spezies amüsiert: Ach, die Armen – einmal eingekehrt uns schon die Ski geklaut. In Bad Nauheim fühlt man sich ohne Sticks fast nackt.

So bin ich denn wieder angekommen, nackt und waffenlos, ohne Rollator oder Walking Sticks. Seit ich meinen 50sten Geburstag hier gefeiert habe, schiele ich zur Inspiration auf die Gepflogenheiten der jüngeren Bad Nauheimer. Oder besser: der etwas jüngeren. Von meinem Fenster aus sehe ich auf die Usa und die Zanderstrasse, auf der allabendlich Mitt-Vierziger waghalsige Pirouetten auf ihren Roller Blades vollführen. Lieber nicht. Kurz darauf erscheint eine nicht enden wollende Reihe Sedgeways, gesteuert von darauf regunglos verharrenden Gestalten – eine grotesk anmutende Parade versteinerter Kurgäste. Auch nicht das Richtige. Im Gegensatz zu den Aufgeboten der Zanderstraße zeugen die in Zeitlupe ausgeführten Schläge der Minigolfer im Kurpark von einer fast atemberaubenden Wendigkeit. Ich bin noch immer auf der Suche.

So ist das, wenn man zurück kommt. Es ist jedoch keine Pinteresque Erfahrung, und auch die klassische homecoming Thematik trifft nicht zu. Denn der Großteil der Kleinstadt hat das letzte Vierteljahrhundert fast unverändert überdauert. Das Dolomiti Eiscafé auf der Parkstrasse hat noch immer den gleichen Schriftzug wie in den Sechziger Jahren, nur das Sortiment ist etwas angewachsen. Willi’s Pub feiert mittlerweile den 35. Geburtstag. Seit den Siebzigern spielt man hier die gleiche Musik – eine nostalgische Mischung, so ähnlich wie damals im Friedberger Lascaux. Das war eigentlich meine Stammkneipe, auch wenn wir hin und wieder bei Willy in Bad Nauheim einkehrten.

Ach ja – genaugenommen bin ich Friedbergerin, aber da der Wetterauer Mikrokosmos sehr überschaubar ist, habe ich nie so genaue Grenzen gezogen. In Friedberg sind die Veränderungen auffälliger. Vergeblich suchte ich das Salamander Schuhgeschäft auf der Kaiserstrasse. Dort wurde uns damals mit einem Lurchi-Heftchen das langwierige Anprobieren der neuen Halbschuhe erträglich gemacht. Weg. Auch der Fisch-Umsonst ist Geschichte. Manch langer Angelausflug in den Siebzigern endete dort für mich, um die Verwandschaft geschickt über das ausgebliebene Petri Heil hinweg zu täuschen. Die Schule, an der ich zu eben dieser Zeit die Nerven vieler Pädagogen einem Reißtest unterwarf, sieht von vorn noch immer genauso zeitlos aus wie damals. Roter Buntsandstein, die schwere Tür und die Plakette mit der Aufschrift „Augustinergymnasium“. Nur ein Blick um die Ecke gibt die neuen Gebäude preis.

Auch die wunderbar riechende Schillerlinde: zu. Gibt es noch eine Tanzschule im Hotel Trapp? Herr und Frau Wiedemann schickten mich in meiner ersten Tanzstunde gleich wieder nach Hause, da man – da waren sie ganz sicher – nicht in Clogs tanzen lernen konnte. Ich verwies auf die Holländer, die es doch auch zu einer ganz passablen Kultur gebracht hatten, aber es nützte nichts. Wieder neue Schuhe. Diesmal ohne Lurchi-Heftchen. Fortan wurden wir von jenem Paar der Tanzkunst unterwiesen. Praktisch sah das so aus, dass man den ganzen Abend versuchte, den weniger attraktiven Jünglingen, die sich dort en masse versammelt hatten, zu entkommen. Wurde man jedoch einmal zum Tanz aufgefordert, war alles zu spät. Das gebot  - so Wiedemann – die Etiquette. Und dann kam man wieder in den Genuss der hiesigen männlichen Kommunikation: „Ich heiße Andreas und komme aus Ossenheim. Mein Hobbies sind Schwimmen, Briefmarken sammeln und Tanzen.“ Da musste man durch.

Früher war halt alles besser.

Susie Vrobel (Kurstätterin)
Mai 2011