Dienstag, 19. Juli 2011

Wetterauer Geschichten Teil2

Zurück in der Wetterau! (2)


„… un mir habbe dem Mörler Ernst sein Dreck uff de Gass.“
„Un kaahner säscht was.“
„Außerm Erhard.“
„Ei, der mäscht doch aach nix. Schwätzt bloß dumm erum.“
„Un kaahner mäscht de Dreck eweg.“

Taufrische Einsichten in die Topthemen des Tages bekommt man gratis im Café Kissler auf der Kaiserstrasse. Über einer Tasse Tee verfolge ich das Gespräch der erhitzten Gemüter am Nebentisch. Bald wendet sich das Gespräch vom Thema Mörler Ernst zu Dreck im Allgemeinen. Ja, früher lag nicht so viel Dreck herum. Da hat man vor der eigenen Tür gekehrt. Nur Mörlers hatten es angeblich nie so genau genommen. Die kenne ich zwar nicht, und wenn ich vierzig Jahre zurückdenke, erscheinen zunächst nur einige mehr oder weniger klare Bilder vor Augen. Die sich jedoch erstaunlich schnell verselbstständigen.

Wie jeder weiß, war die Welt in den Sechzigern noch in Ordnung. Man konnte vom Bürgersteig essen. Und die ‚Himmel und Hölle’ Hickelkästchen, die wir als Kinder auf den Asphalt malten, waren garantiert Eintagsfliegen, denn am nächsten Morgen waren sie bereits vor Schulbeginn weggeschrubbt. An Dreck auf dem Bürgersteig kann ich mich nicht erinnern, und wenn es ihn doch gab, so beherrschte er für uns Kinder nicht das Strassenbild.

Doch es es ist nicht Sauberkeit, die die damalige Zeit prägte – gewiss, die alltägliche Zerstörung unserer Hickelkästchen zeigte die Grenzen unseres künstlerischen Schaffens auf. Doch es gab eine weitaus präsentere Tugend, die uns damals als Kindern zu schaffen machte: es herrschte Ruhe. Und diese wurde mit allen Mitteln aufrecht erhalten. Das Stören der Mittagsruhe von 13 bis 15 Uhr war ein Sakrileg. Um Punkt ein Uhr ertönte der letzte Ruf: „Fischer, Fischer, welche Fahne weht heute?“ und alle Spieler wurden von ihren Müttern ins Haus gerufen. Theoretisch hätte man zwei Stunden später weiter spielen können, aber dann war es schon fast Zeit für den Fernsehhund – das konkurrenzlose Entertainment einer ganzen Generation. Wie gebannt verfolgten wir die packenden Abenteuer der Colliehündin und ihrem Freund Timmy, der nach jedem Bellen hilfreich übersetzte: „Lassie will uns etwas sagen …“

Und brav waren die Kinder damals natürlich. Kleinere Steine des Anstosses wurden wegglobalisiert. Die Klagen der direkten Nachbarschaft, dass meine Weibergschneckenzucht sich auf deren Fensterscheiben häuslich eingenistet hätten kamen zwar prompt. Aber ebenso schnell war das Problem gelöst, indem ich die Tiere dreihundert Meter weiter zur Endlagerung in Abendroths Garten umsiedelte. Sie wissen bis heute nicht, warum ihre Gartenkräuter damals so plötzlich verendeten.

Ja, die Sechziger. Von 1967 bis 1971 besuchte ich die damals neu gegründete Phillip-Dieffenbach-Schule. Der erste Schultag war zunächst etwas öde, weil die Erwachsenen in der Aula endlos lange Reden hielten. Danach ging es dann in die Klassen und ich wünschte mir den Augenblick herbei, in dem ich endlich meine Zuckertüte öffnen konnte. Am Nachmittag fragte man mich, wie ich die neue Schule fand, und ich erwiderte diplomatisch: „Ja, ganz schön.“ Was ich jedoch damals aus einem unerfindlichen Grund nicht mitbekommen hatte, war, dass ich von nun an täglich für die nächsten vier Jahre dort auftauchen musste. Wenn man sieben ist, bedeutet das „fast für immer“.

Der Schock sass tief, doch ich gewöhnte mich schnell ein und gewann nach kurzer Zeit ein hohes Ansehen als Stärkste der Klasse. Ob ich das wirklich war, weiß ich bis heute nicht, doch die Jungs, die ich damals in den Schwitzkasten nahm, verbreiteten die Nachricht wie ein Lauffeuer. Denn jedes meiner Schwitzkastenopfer wußte von dem gefürchteten Muskelreiten zu berichten und auch dem I-Tüpfelchen der damaligen Kampfkunst: das Spucken von oben herab auf den Gegner.

Schleimern wurde kurzer Prozess gemacht. Der Junge, der meiner Lehrerin Frau Blochwitz allmorgendlich die Tasche in den ersten Stock hinauftraug, ahnte nichts, als ich ihm die Tasche wegriss und damit die Stufen herauf rannte. Die tote Spitzmaus, die ich auf dem Schulweg gefunden hatte und sorgsam in meinem Schreibmäppchen verstaut hatte, fand so in Windeseile ihren Weg in Frau Blochwitz’ Tasche, die ich sodann auf ihrem Pult deponierte. Jetzt war der Schleimer dran – dachte ich. Sie kam, öffnete ihr Tasche, doch anstatt der erwarteten Ohnmacht oder Schelte des Schleimers rief sie nur „Susie!“ Das gab mir dann doch zu denken.

Aber nicht für lange. Denn die aufregende Neuigkeit von einem Affenmenschen, der in nicht allzuweiter Ferne sein Unwesen treiben sollte, ging mir nicht aus dem Kopf. Bald erspähte ich ihn überall – in Unterholz, hinter Ruppenthals Garage und schließlich – neben dem Feld hinter der Phillip-Dieffenbach Schule, das damals noch nicht bebaut war und im Winter zum Schlittschuhlaufen genutzt wurde. Dort sah’ man – ganz klar – die Silhoutte des schlafenden Affenmenschen auf einem umgepflügten Feld. Oder besser: zunächst sah nur ich die furchterregende Gestalt. Doch nachdem ich meine Mitschüler eingeweiht hatte, waren auch sie so überzeugt, dass sie sich nach Schulschluss nicht mehr nach Hause trauten. Den Pädagogen, die ihnen erklärten, dass es sich nur um einen Berg Zuckerrüben handelte, wurde kein Glauben geschenkt. So mussten denn die genervten Eltern der ABC-Schützen ihre Spößlinge am Nachmittag mit oder ohne Auto abholen.

Bestraft wurde man schon. Ich musste nach mancher Laubschlacht desöftern den Schulhof kehren, denn es gab immer irgend jemanden, der die Klappe nicht halten konnte, wenn die gefürchtete Frage gestellt wurde: „Wer hat das angestiftet?“ Doch insgesamt machte der Unterricht Spaß, und man fand schnell heraus, was gern gehört wurde. Es war leicht durchschaubar, was im Verkehrsunterricht Eindruck schinden würde. Und so schloss ich die Beschreibung meine Schulwegs mit dem Satz: „Ich warte, bis es grün ist und dann schaue ich trotzdem noch mal nach rechts und links, ob vielleicht ein Autofahrer die Ampel nicht gesehen hat.“ Frau Blochwitz fand das – erwartungsgemäß – sehr wichtig und bat mich, den letzten Satz noch einmal vorzulesen. Das ging zwar hart am Schleimen vorbei, kompensierte jedoch meine faux pas. Und so gelang es mir, trotz meiner grottenschlechten Handarbeiten und allzu lebhafter Phantasie, die Grundschule zu meistern.

Doch wir bildeten uns auch außerhalb der Grundschule weiter. Die Illustrierten meiner Großmutter waren eine wahre Fundgrube. So erfuhr ich, dank eines Artikels über die Kommune 1, dass Gruppensex jetzt „in“ ist. Ich hatte keine Ahnung, was Gruppensex ist, verkündete die frohe Botschaft jedoch gern an alle Mitschüler, die es hören wollten. Panik brach aus unter den Pädagogen. Eine Lehrerkonferenz wurde einberufen. Meine Eltern mussten zur Schule kommen und die Sache klären. Die Episode endete mit einem langen Vortrag für mich und die dringliche Bitte an meine Großmutter, uns Kinder fortan zu verbieten, ihre Frau im Spiegel, Das Goldene Blatt und ähnliche Publikationen anzusehen.

Ahoi Brausepulver gab es schon damals. Es war Teil eines überaus wichtigen Rituals, in dem man seinen Mitschülern Freundschaft und bedingungslose Loyalität versprach. Das ganze verlief folgendermaßen: Zwei Grundschüler teilten sich ein Päckchen Ahoi Brause und rieselten es auf die meist nicht ganz sauberen Handflächen. Dann spuckte man auf die jeweils andere Hand, so dass das Pulver begann, wunderbar zu schäumen. Der endgültige Freundschaftsbeweis bestand nun darin, das schäumende Pulver aus eigenen Handfläche heraus zu lecken. Wir haben es alle überlebt und erfreuen uns heute eines robusten Immunsystems.

Im Café Kissler leert sich der Nebentisch, doch die Bilder meiner Grundschulzeit sind mir noch klar vor Augen. Eines morgens, als ich nach meiner Masern-Pause wieder in die Schule kam, sangen alle das Lied von „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“. In jeder Strophe wurden alle Vokale durch einen einzigen ersetzt, was ich damals allerdings nicht wusste. „Dri Chininsin mit dem Kintiribiss …“ Ich war verzweifelt, da ich glaubte, die anderen hätten während meiner Abwesenheit eine andere Spache gelernt, derer ich nun nicht mächtig war. Auch wenn sich die Sache schnell aufklärte, erinnere ich mich noch immer an die Panik, die mich beschlich, dass ich etwas verpasst haben könnte, und dass ich von nun an nicht mehr mitreden könnte.

Doch ich liebte es, Gedichte und Lieder auswendig zu lernen, und so holte ich schnell auf. Noch heute kann ich die Werbeslogans der Sechziger rezitieren. „Wahre Schönheit kommt von innen – Merz Spezial Dragees“, „Wer wir denn gleich in die Luft gehen – greife lieber zur HB!“, „Nicht auszieh’n – nur ansprüh’n!“

Und dann war da noch der unvergessliche Zweizeiler aus dem Schuhgeschäft:

„Lange schallt’s im Walde noch:
Salamander lebe hoch!“

Früher konnten die Leute halt noch reimen.


Susie Vrobel, Juni 2011

1 Kommentar:

  1. Herrlich! Ich erinnere mich sehr genau! Allerdings fehlt die Geschichte mit "Deckel hoch, der Kaffee kocht, du erinnerst dich? Anschließend wurden unsere Eltern einbestellt.Und die Note 3 in Betragen eingetragen. Und trotz des Versprechens, wenn wir den Rest des Schuljahres keinen Blödsinn mehr machten würden, wäre die Note 3 in Betragen wieder gestrichen, stand sie dann doch im Zeugnis und ich musste meiner restlichen Verwandtschaft erklären, was ich denn angestellt hatte.

    Ganz herzliche Grüße
    Christiane Mrozek

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