Dienstag, 8. Mai 2012

Wetterauer Geschichten Teil13


Zurück in der Wetterau! (Teil 13)

Neulich sah ich einen älteren Herrn mit nur einem Skischuh und ohne Stöcke in die Trinkkuranlage schlendern. Zunächst dachte ich mir nicht viel dabei. Denn ein Großteil der hiesigen Bevölkerung läuft ja auch mit Skistöcken ohne die zugehörigen Schuhe durch die Kuranlagen. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich die Unterschenkelausstattung jedoch als Orthesenstiefel. Das Wort – ich habe es erst letzte Woche gelernt – kommt nur schwer über die Lippen und ich schaue dem Kurgast neidvoll nach, der sich heute nicht mehr den Qualen eines Gehgipses aussetzen muss.

Mein letzter Gehgips und auch der meiner Freunde sah in den Siebzigern anders aus. Knöchelbrüche zog mal sich damals überall zu. Mein Blutsbruder Kater knickte beim Fußballspielen auf dem Feld um, ich selbst – weniger glorreich – im Roxy Kino während der Rocky Horror Picture Show. Damals bedeutete ein Knochenbruch sechs Wochen drastischer Einschränkungen mit einem schweren Gipsbein. Den Gehgips bekam man erst ein paar Wochen nach dem Unfall verpasst. Es war eigentlich nicht mehr als ein Klotz, der unter der Ferse am Gips angebracht wurde. Das erforderte viel Geduld – eine Tugend, für die weder ich noch mein Blutsbruder bekannt waren.

Und so kam es auch, dass wir eines abends beschlossen, nicht weiter auf ihren Gehgips zu warten und, als Geister verkleidet, die Nachbarschaft in Angst und Schrecken zu versetzen. (Ja, „ihren“ ist schon richtig – mein Blutsbruder war meine beste Freundin, aber da es damals keine „Blutsschwestern“ gab, als wir uns, nach unseren Vorbildern Winnetou und Old Shatterhand in die Finger ritzten und das Ritual vollzogen, nannten wir uns fortan Blutsbrüder.) Wie so oft schliefen wir in Sommernächten – als echte Pfadfinder – draußen im Garten meiner Eltern in unseren Schlafsäcken. Sobald es dunkel wurde, streiften wir uns zwei Bettücher über und schlichen mit schauderhaftem Geheule durch die nachbarlichen Gärten. Der Erfolg war nicht gerade durchschlagend – einige Opfer schlossen geräuschvoll die Fenster, andere blieben ungerührt vor dem Fernseher sitzen. Die Nachbarin an der Ecke erkannte uns sofort, schmiss sich sofort ans Telefon und petzte. Wir bekamen Hausarrest und mein Blutsbruder durfte erst mal nicht mehr bei uns im Garten übernachten.

Aber die Gipsbeine hatten auch ihr Gutes. War man beliebt, füllte sich bald jeder Quadratzentimeter mit Unterschriften und kleinen Kunstwerken. Einen Gehgips konnte man früher besser bemalen, da kein Plastik im Weg war. Und so war man trotz wiedergewonnener Freiheit ein wenig traurig, wenn das Erinnerungsstück beim Abnehmen rücksichtslos zerschnitten wurde.

Auch andere Unpässlichkeiten wurden damals rabiat behandelt. Bei Verstopfungsproblemen wurde ein Esslöffel Rhizinusöl gereicht, der ekelhaft schmeckte und dessen Wirkung fast umgehend einsetzte. Alle, die jemals einen Löffel dieses schwabbeligen Trans herunterwürgen mussten, wissen was ich meine.

Läuse hatten wir zwar selbst nicht, doch wenn alljährlich ein Zirkuskind für ein paar Tage am Grundschulunterricht teilnahm, kratzte sich bald die ganze Klasse unablässig am Kopf. Ich weiß nicht mehr, was man damals in Friedberg gegen das Ungeziefer einsezte, doch ein paar Jahre später, im Sommercamp der Pfadfinder an der Dordogne, wurden wir von Kopf bis Fuß mit DDT-Pulver eingesprüht. Damals scherte man sich noch nicht um gesundheitliche Bedenken hinsichtlich des Pulvers, und so sahen wir nach der Ganzkörperbehandlung alle aus wie grauhaarige Zombies – das war ein Erinnerungsfoto wert.


 Die Zirkuskinder in der Grundschule wurden trotz des ihnen angedichteten Ungezieferbefalls von allen beneidet, kannten sie doch nicht nur den Löwenbändiger persönlich, sondern auch Tiger und Elefanten beim Namen und wahrscheinlich durften sie auch in schwindelnden Höhen einen Salto Mortale trainieren. 

Doch zurück zur Medizin. Auch OPs waren damals furchteinflößender – zumindest der Teil, den man noch mitbekam. Als mein Bruder und ich in Nieder-Weisel von unseren Rachenmandeln Abschied nahmen, wurden wir mit Chloroform betäubt: Ein Assistenzarzt – oder vielleicht war es auch der arbeitslose Cousin des Chirurgen – saß auf einem Stuhl in der Ecke des OPs. Er trug als einziger normale Strassenkleidung, alle anderen Erwachsenen waren in weiße Kittel gekleidet. Ohne Vorwarnung wurde ich auf den Schoß des Cousins gesetzt und im gleichen Augenblick hielt er meine Arme und Beine fest, nahm ein weißes, in Chloroform getränktes Tuch, und presste es auf mein Gesicht. Es dauerte nur ein paar Sekunden, und ich war weg, doch diese waren mit Panik erfüllt.

Manche Missgeschicke bedurften glücklicherweise keiner Operation, wenn es auch zuerst so ausgesehen haben mochte. Mein damals schon verantwortungsvoller Forscherdrang veranlasste mich früh, Experimente zunächst an mir selbst durchzuführen. Ich erinnere mich noch genau, wie mein Vater alles stehen und liegen ließ, mich ins Auto trug und wir in einem Affenzahn zu Dr. Seitz fuhren. Ich hatte mir eine Murmel in die Nase geschoben und konnte daher nicht mehr so frei atmen wie gewohnt. Vielleicht war ich auch schon etwas blau angelaufen, denn ich durfte sogar vorne im Auto sitzen. Im Wartezimmer angekommen, sahen mich alle besorgt an, und ließen uns bereitwillig vor. Doch just in dem Augenblick, als ich hereingerufen wurde, klickte es und alle Blicke folgten der Murmel, die nun lautlos, endlich befreit, über den Boden des Wartezimmers rollte. Schwein gehabt. 

Auf dem Weg zur Phillip-Dieffenbach-Schule überquerte ich allmorgendlich eine Brücke mit Aluminiumgeländer (es existiert heute noch), die über den winzigen Bach führte. An einem eisigen Wintermorgen war das Geländer mit wunderschönen weißen Kristallen übersäht. Um zunächst herauszufinden, wie kalt der Rauhreif war, testete ich die Oberfläche, indem ich kurz drüberleckte. Es war wirklich sehr kurz, doch die wenigen Sekunden genügten, meine Zunge am Geländer festfrieren zu lassen. Auch hier beschlich mich ein Moment der Panik, obwohl ich mir dies nicht anmerken ließ, als meine Klassenkameraden an mir vorbei zum Schulgebäude liefen. Ich versuchte den Anschein zu erwecken, dass ich mich vor Vergnügen kaum losreißen konnte. Doch ich saß nicht nur fest, es tat auch höllisch weh – ich zerrte und spuckte und irgendwie kam ich plötzlich los. Meine Zunge tat noch tagelang weh und nicht mal die Fischstäbchen wollte so richtig schmecken, aber ich ertrug es mit der stoischen Ruhe eines Grundschülers, der sich keinerlei Blöße geben wollte.

Manchmal halfen auch bloße Androhungen, um sich aus missgeschicklichen Lagen zu befreien. Als ich versuchsweise meinen Kopf durch Stahlverstrebungen am Treppengeländer meiner Großeltern schob – rein ging ganz einfach, nur raus leider nicht mehr, da die Ohren nun im Weg waren – entschied meine die Familie, dass man wohl besser die Feuerwehr rufen sollte. Das wirkte Wunder, und wenn auch meine Ohren seitdem wohl in einem anderen Winkel abstehen – das Gefühl, sich selbst befreit zu haben, stärkte das Selbstbewußtsein ungemein.

Viele gutgemeinte Ratschläge ignorierte ich jedoch, insbesondere die meiner Großmutter, die Mückenstiche mit Spucke heilte und Warzen mit Magie. Für alle diejenigen, die es trotzdem einmal ausprobieren möchten, hier ihr Rezept: Man vergräbt bei Vollmond eine Speckschwarte an der linken Hausseite und wenn diese verottet ist, ist man auch seine Warzen los. Sie schwörte drauf – großes Pfadfinderehrenwort.

Susie Vrobel, Mai 2012