Donnerstag, 28. Juli 2011

Wetterauer Geschichten Teil5

Zurück in der Wetterau (5)

In Bad Nauheim werden die Stockenten immer weniger. Warum? Diese Frage, die sich jedem Spaziergänger aufdrängt, wurde kürzlich in der Wetterauer Zeitung beantwortet: Die (eigentlich nicht heimischen) Nilgänse, die sich im hiesigen Kurpark genüßlich vermehren, verdrängen die einheimische Spezies. Dem Lokalreporter gebührt Ehre, sich dieses Rätsels angenommen zu haben und uns aufzuklären.

Doch gewissenhafte Recherchen gab es bereits in grauen Vorzeiten. Ende der Siebziger entnahm ich unserem lokalen Revolverblatt, dass in Nieder-Weisel ein UFO gelandet war. Doch leider blieb es nicht lange. Entweder fanden die Außerirdischen den Planeten zu lebensfeindlich, oder sie fürchteten sich vor der öden Konversation mit dem Förster. Egal – sie suchten auf jeden Fall sofort wieder die Weiten des Universums auf. Der Förster hingegen hatte wohl viel Zeit, denn er alarmierte nicht nur die Polizei, sondern gleich darauf auch den Lokalreporter.

Auch wenn die Geschichte wohl für die meisten Leute zum Himmel stank, nahm ich mir vor, der Sache auf den Grund zu gehen. Denn man weiß ja nie, und die Gefahr, sich lächerlich zu machen zählt nicht für einen wahren Wissenschaftler. Mein Schulfreund Chippy begleitete mich auf der Fahrt nach Nieder-Weisel. Oder, besser gesagt: in den Forst der Ortschaft, wo – jwd – ein Forsthaus stand, mit dessen Inhaber ich telefonisch einen Interview-Termin ausgemacht hatte. In dem alten VW-Käfer hatten wir das Nötigste verstaut: Notizblock und Stifte, sowie einen Spaten und alte Plastiktüten für die Bodenproben.

Ich hatte mir keinerlei Gedanken gemacht, was ich wohl nachweisen könnte, doch es erschien mir einfach schicklich, Bodenproben zu entnehmen, da das so wunderbar wissenschaftlich klang. Mit meinem selbstgebastelten Ausweis in der Tasche, der mich – als Ufologin – autorisierte qualifizierte Fragen zu stellen, fuhren wir los.

Chippy wartete draußen, während ich am Forsthaus klingelte, mich vorstellte, und den Förster interviewte. Ich hatte ein schon etwas älteres Semester vor mir, und die Konversation war, gelinde gesagt, eher zäh. Trotzdem schrieb ich all die Dinge nieder, die ich mir auch zu Hause aus den Fingern hätte saugen können: ein helles Licht, ein komisches Geräusch und das Raumschiff auf der Wiese hinter dem Haus. Ich bat ihn, mir die Stelle zu zeigen und er ging bereitwillig hinaus und zeigte mir den Landeplatz. Auch gegen die Entnahme von Bodenproben hatte er nichts. Ich bedankte mich und und fing an, den Spaten in den harten Boden zu stechen.

Mit einem halben Dutzend gefüllter Plastiktüten fuhren wir dann zum Augustinergymnasium, wo ich die Proben zu untersuchen gedachte. Ich erklärte meinem Physiklehrer, dass ich Zugang zum Labor im Keller des ehemaligen E1 benötigte, um meine wissenschaftlichen Untersuchungen zu beginnen. Er war sehr kooperativ und so ließen wir zuächst den Geigerzähler über die Proben streichen. Keine ungewöhnlicher Teilchenzerfall. Auch sonst waren keine signifikanten Überraschungen festzustellen. Ein leeres Gefühl beschlich mich – ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber ein so rein gar nicht ungewöhnliches Resultat war doch sehr ernüchternd. Nun gut. Ich bedankte mich für die freundliche Unterstützung und schleppte die Bodenproben wieder hinauf. Was nun – welche Untersuchungen hatten wir bisher ausgelassen? Wichtige Fragen. Womöglich existentielle Entscheidungen. Doch mittlerweile war es 2 Uhr nachmittags und mein Magen fing an, zu knurren. Und so beschloss ich, die Wissenschaft Wissenschaft sein zu lassen und warf die hart erschaufelten Beweise in die Müllcontainer der Schule (in den Siebzigern gab es noch keine Mülltrennung).

Damals ging man den Dingen noch auf den Grund.


Susie Vrobel, Juli 2011

Montag, 25. Juli 2011

Wetterauer Geschichten Teil4

Zurück in der Wetterau (4)

Auf allen Kanälen wurde in diesen Tagen die Ära des space shuttle zu Grabe getragen. Mit viel Wehmut und Nostalgie. Ich erinnere mich an den ersten Flug – damals verfolgte ich ihn während meiner au-pair Zeit in Paris – aber la navette spatiale berührte mich kaum, da für mich diese Missionen niemals die Aufbruchstimmung der späten Sechziger auch nur annähernd hervorriefen. Denn die space shuttle Flüge dienten einem anderen Zweck, und dieser war überschaubar und sprengte keine frontier.

Der Sommer der ersten Mondlandung hingegen war ein Einschnitt im Leben meiner Generation. Auch wenn viele meiner Freunde später ihre Zimmer mit So what?-Postern ausstatteten, war die Apollo 11 Mission für mich immer eines der inspirienendsten Ereignisse meines Lebens. Die Sommertage im Juli 1969 waren warm und lang und wir standen im Garten meiner Großeltern in Friedberg und sahen uns den Mond an, noch ganz benommen von den im Fernsehen live übertragenen Ereignissen. Dort oben betraten vor nur ein paar Stunden Neil Armstrong und Edwin Aldrin als erste Menschen den Mond. Er sah zwar so aus wie immer – doch wir alle wußten, dass er für uns nie mehr derselbe sein würde. Denn von nun an, so dachte ich, würden wir alle die Fußspuren, die Landespuren des Eagle und die Flagge dort sehen können – wenn wir nur ein besseres Teleskop hätten.

They came in peace – for all mankind. Ich wußte damals nichts über das space race, das der Sputnik und Juri Gagarins Flug ausgelöst hatten. Auch dass er the world of art and Anna Magnani aus dem All grüßte, lernte ich erst viel später. Damals hatte es mir die wunderschöne Figur der Saturn V angetan und ich fühlte mich plötzlich als ein Teil der Menschheit, die dieses Abenteuer in Angriff genommen hatten. Und so war damals der nächste Schritt für mich sonnenklar: Ich wollte Astronaut werden.

Meine Begeisterung war so groß, dass ich selbstgefertigte Zeitungen an die Nachbarn verteilte, die das große Ereignis dokumentierten. Dazu schnitt ich aus allen Illustrierten und Zeitungen Artikel aus, klebt sie zusammen, tackerte sie zu 4-seitigen Publikationen zusammen, und ging hinunter zur Wiese zwischen den Häusern in der Taunusstrasse, um die Menschheit aufzuklären. Es dämmerte mir damals nicht, dass meine Nachbarn vielleicht ebenfalls die Nachricht vernommen haben könnten. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund dachte ich, dass der Rest der Menschheit in Unwissenheit versauerte und ich folglich die neue frohe Botschaft verkünden müsse. Nun, ich war erst 8, und so bedankten sie sich schön und blätterten freundlich durch die Seiten, doch die Neuigkeiten haute sie nicht gerade aus den Socken.

Fortan besann ich mich auch weiterhin auf Reportagen, da man mir früh klarmachte, dass ich niemals selbst an einer Mission teilnehmen würde. Meine Grundschullehrerin Frau Blochwitz zerbrach meine Karriereträume mit der schlichten Feststellung, dass die Nasa keine Mädchen als Astronauten ausbilden würde. Ich verstand die Welt nicht mehr und war mehr als gekränkt. Doch der Lehrkörper war richtig informiert: Ende der Sechziger war die Raumfahrt eine Männerdomäne.

Die Mondlandung hatte auch großen Einfluss auf das Familienleben. Denn das neu erwachte Interesse an Weltraummissionen führte zu einem direkten Konflikt der Generationen. Schuld war die Programmgestaltung von ARD und ZDF – dem „richtigen Fernsehen“ und dem zweiten Kanal (das dritte Programm war erst in den Kinderschuhen). So lief just zu der Zeit, in der die Lieblingssendung meines Vaters ausgestrahlt wurde – die Sportschau – auf dem anderen Kanal „Raumschiff Enterprise“. Ein tragischer Konflikt, denn ich liebte die Helden der Serie. Weniger Captain Kirk, sondern Spock, der sich trocken – cool, calm and collected – den Mysterien und Gefahren des Universums stellte. Wenn ich durch gezieltes Quengeln doch einmal in den Genuss der Serie kam, so bekam ich schon beim Mitsprechen des Vorspanns eine Gänsehaut: „Viele Lichtjahre von der Erde entfernt dringt die Enterprise in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.“

To boldy go where no man has gone before. Die deutsche Antwort auf Star Trek war Cliff Allistar McLanes schneller Raumkreuzer Orion. Dessen Abenteuer wurden jedoch spät am Abend ausgestrahlt, lange nach dem Sandmännchen, und so sah ich erst in späteren Jahren, wie sich Dietmar Schönherr, ohne mit der Wimper zu zucken, über die ein odere andere Alpha-Order hinwegsetze und sein Schiff mit Hilfe eine Bügeleisens durch ferne Raumsektoren navigierte.

Und so gehöre ich auch heute noch der ersten Star Trek Generation an und an die Apollo-Missionen erinnert mich ein 1,5 Meter großes Modell der Saturn V in meinem Wohnzimmer. Die Nachrichten über den letzten Flug der Atlantis ließen mich kalt, denn es fehlte der Kick der Aufbruchstimmung der späten Sechziger. Die Unfälle der space shuttle missions haben nichts damit zu tun. Auch die Apollo Flüge hatten ihre Opfer zu beklagen, auch wenn sie oft glimpflich davon kamen. Im Religionsunterricht mussten wir damals für die Astronauten der Apollo 13 Mission beten. Es schien wohl geholfen zu haben, denn außer einer Blasenentzündung kamen sie relativ wohlbehalten wieder an.

Würde ich heute zu einer Weltraummission eingeladen, so kämen mir möglicherweise Bedenken, die ich den Sechzigern noch nicht hatte. Denn damals kannte ich noch nicht die Unpässlichkeiten einer Blasenentzündung. Heute schon. So bin ich denn hin- und hergerissen zwischen wollenen Unterhosen und the final frontier.

Früher gab es halt noch durchbrechbare Grenzen.


Susie Vrobel, Juli 2011

Mittwoch, 20. Juli 2011

Wetterauer Geschichten Teil3

Zurück in der Wetterau! (3)

In Willy’s Pub in Bad Nauheim wird in diesem Jahr der 35. Geburtstag gefeiert (des Pubs, nicht Willys). Dort trinke ich regelmäßig meinen Barbera und lese Manuskripte oder Bücher. Ab und zu treffe ich Freunde. Es ist also das, was man als meine neue Stammkneipe bezeichnen könnte.

In Friedberg habe ich bisher keinen solchen Ort gefunden. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich in meinem früheren Leben jeden freien Abend im Lascaux verbrachte, mit dem es bis heute kein Etablissement aufnehmen kann. Gewiss, es waren andere Zeiten und ein Vergleich fällt schon auf Grund der Übersetzungsprobleme schwer, denn die Stimmung im Lascaux war damals nicht cool, sondern dufte.

Meine geliebte Stammkneipe befand sich in einem Keller in der Kleinen Klostergasse. Da es offiziell ein Club war, ging man nicht einfach hinein, sondern drückte zuerst einen verklebten Klingelkopf, neben einem silbernen Schild, das mit der Aufschrift „Off Limits“ versehen war. Ein Brummton ertönte, man drückte die schwere Stahltür auf, ging die Stufen hinab und öffnete den schweren, von Zigarettenrauch und Staub durchtränkten Vorhang. Im nächsten Augenblick stand man im Paradies der Siebziger Jahre: Musik und Qualm, ein Wirrwarr von Gesprächen und Gelächter, das Klopfen der Würfel in den Bechern der Mäxchenspieler, das Klirren der Biergläser und die alles übertönenden Bestellungen der Gäste: „Norbert, machst du mir noch ein Bier?“


Natürlich gab es auch Höhlenzeichnungen im Lascaux: gewissenhaft eingeritzte Kopien der gleichnamigen Höhle in Südfrankreich. Sie vermittelten eine Atmosphäre der Zeitlosigkeit, die sich auch auf unser Trinkverhalten auswirkte. Denn konnte man heute nicht zahlen, so musste man das auch morgen nicht tun. Doch am Ende des Monats wurden dann die vielen Striche auf dem Deckel zusammengerechnet und die Rechnung wurde beglichen. Oft ging dies nicht, ohne Abschied zu nehmen von liebgewonnenen Dingen, die man zu Geld machen musste. So besitzt mein Bruder noch heute eine beachtliche Briefmarkensammlung, zahllose LPs und auch meinen Chemie-Experimentierkasten. Doch wir sangen Live for Today, denn unser Frontallappen war ja noch nicht vollständig ausgebildet. Meine Freundin hatte das damals mit dem überall eingeritzten Carpe Diem nicht ganz verstanden – sie glaubt bis heute, es bedeutet „Warnung vor dem Hund“.

In jenen Tagen war das Lascaux proppenvoll. Wir quetschten uns durch die engen Gänge zwischen der Bar und den mit Fellen bedeckten Bänken und Holzklötzen in die hinteren Räume. Teenager tümmelten sich neben älteren Semestern, wie Klaus Adomeit aus Fauerbach, der freizügig selbstgedrehte spendierte und uns vom Krieg erzählte. Man quetschte sich mit einem freundlichen, aber bestimmten „Rück’ mal“ auf die Sitzbänke, meist zunächst nur mit halbem Hintern. Im Laufe des Abend schob man sich dann bei jeder Gelegenheit weiter, bis man in Reichweite eines der kleinen Holztische war und an existentiellen Diskussionen oder einem Mäxchen-Spiel teilnehmen konnte. Gewürfelt wurde jeweils um ein Glas Apfelkorn, das, einmal geleert, in die der früheren Gewinner gestapelt wurde. So füllten zu fortgeschrittener Stunde architektonische Meisterwerke die Tische in Form von Türmen aus leeren Gläschen, die sich bedrohlich zur Seite neigten, je mehr sie anwuchsen. Man verharrte den Rest des Abends in einem Mikrokosmos, in den die Außenwelt nur ab und zu eintauchte. Die etwas lautern Stücke der Easy Rider LP waren ab und zu auszumachen, den Rest erdrückte das Stimmengewirr. Doch gab es manchmal – urplötzlich – auch ruhige Momente, in denen die Musik vernommen werden konnte. Dann ergriffen wir umgehend die Gelegenheit, Don’t Bogart That Joint, my Friend mitzusingen.


Wir befanden uns zwar schon im Keller, doch es ging noch tiefer hinab. Und in just diesem sous-sous-sous Terrain fanden die Sessions statt. Auch ich brachte hin und wieder meine Gitarre mit. Da saßen der Schlumpf und Stefan Schreckenberger, der Obi ohne Schlagzeug und viele andere, derer Namen ich mich nicht erinnere. In den vollkommen verqualmten neun Quadratmetern hörte man manch ganz passable Darbietung, doch auch grottenschlechte Interpretationen. Das störte aber niemanden und als das sous-sous-sous Terrain wegen feuerpolizeilicher Beanstandungen geschlossen wurde – es wurde nicht nur geschlossen, sondern regelrecht verbarrikadiert – prosteten wir oft mit Wehmut dem Bretterverschlag zu, hinter dem die Treppe zum paradise lost begann.  

Später wurde es dann immer ruhiger in meiner Stammkneipe. Man konnte die Musik klar und laut hören und fuhr erschrocken zusammen, wenn der Klingelton ertönte. Dann sah man gebannt auf den schweren Vorhang, um zu sehen, wer sich in diesem Keller verlaufen hatte. Oft erschienen die Figuren nicht ganz – ein paar Hände und Arme waren zu sehen, die den Vorhang ein wenig beiseite schoben, ein Kopf, der kurz um die Ecke blickte, und dann schnell wieder verschwand. Meine Teenagerzeit endete und auch die Lascaux-Tage waren Ende der Siebziger bereits gezählt, als ich Friedberg verlies. Die letzten Wehen und die endgültige Schließung bekam ich nicht mehr mit.

Vor zwei Wochen ging ich durch die Kleine Klostergasse. Der ehemalige Eingang war nicht wiederzuerkennen. Kein „Off Limits“-Schild, kein Anhaltspunkt. Waren es wirklich nur drei Schritte bis zur Strasse? Nein. Haben wir uns damals durch diesen dunklen, engen Gang zur Eingangstür vorgetastet? Hm. Das einzige Licht, an das ich mich erinnern kann, waren die allabendlichen blauen-weißen Scheinwerfer der Jeeps: die MP versuchte, mehr oder weniger erfolgreich, ihre GIs von gewissen Etablissements fernzuhalten. Ohne Zeitmaschine kann ich diese Fragen nicht mehr beantworten. Doch als alter Pfadfinder vermute ich, dass wir weder auf Licht noch Wegweiser angewiesen waren – wir folgten unserer Nase.

Damals konnte man seine Stammkneipe sogar im Dunkeln finden.

Susie Vrobel, Juli 2011


Dienstag, 19. Juli 2011

Wetterauer Geschichten Teil2

Zurück in der Wetterau! (2)


„… un mir habbe dem Mörler Ernst sein Dreck uff de Gass.“
„Un kaahner säscht was.“
„Außerm Erhard.“
„Ei, der mäscht doch aach nix. Schwätzt bloß dumm erum.“
„Un kaahner mäscht de Dreck eweg.“

Taufrische Einsichten in die Topthemen des Tages bekommt man gratis im Café Kissler auf der Kaiserstrasse. Über einer Tasse Tee verfolge ich das Gespräch der erhitzten Gemüter am Nebentisch. Bald wendet sich das Gespräch vom Thema Mörler Ernst zu Dreck im Allgemeinen. Ja, früher lag nicht so viel Dreck herum. Da hat man vor der eigenen Tür gekehrt. Nur Mörlers hatten es angeblich nie so genau genommen. Die kenne ich zwar nicht, und wenn ich vierzig Jahre zurückdenke, erscheinen zunächst nur einige mehr oder weniger klare Bilder vor Augen. Die sich jedoch erstaunlich schnell verselbstständigen.

Wie jeder weiß, war die Welt in den Sechzigern noch in Ordnung. Man konnte vom Bürgersteig essen. Und die ‚Himmel und Hölle’ Hickelkästchen, die wir als Kinder auf den Asphalt malten, waren garantiert Eintagsfliegen, denn am nächsten Morgen waren sie bereits vor Schulbeginn weggeschrubbt. An Dreck auf dem Bürgersteig kann ich mich nicht erinnern, und wenn es ihn doch gab, so beherrschte er für uns Kinder nicht das Strassenbild.

Doch es es ist nicht Sauberkeit, die die damalige Zeit prägte – gewiss, die alltägliche Zerstörung unserer Hickelkästchen zeigte die Grenzen unseres künstlerischen Schaffens auf. Doch es gab eine weitaus präsentere Tugend, die uns damals als Kindern zu schaffen machte: es herrschte Ruhe. Und diese wurde mit allen Mitteln aufrecht erhalten. Das Stören der Mittagsruhe von 13 bis 15 Uhr war ein Sakrileg. Um Punkt ein Uhr ertönte der letzte Ruf: „Fischer, Fischer, welche Fahne weht heute?“ und alle Spieler wurden von ihren Müttern ins Haus gerufen. Theoretisch hätte man zwei Stunden später weiter spielen können, aber dann war es schon fast Zeit für den Fernsehhund – das konkurrenzlose Entertainment einer ganzen Generation. Wie gebannt verfolgten wir die packenden Abenteuer der Colliehündin und ihrem Freund Timmy, der nach jedem Bellen hilfreich übersetzte: „Lassie will uns etwas sagen …“

Und brav waren die Kinder damals natürlich. Kleinere Steine des Anstosses wurden wegglobalisiert. Die Klagen der direkten Nachbarschaft, dass meine Weibergschneckenzucht sich auf deren Fensterscheiben häuslich eingenistet hätten kamen zwar prompt. Aber ebenso schnell war das Problem gelöst, indem ich die Tiere dreihundert Meter weiter zur Endlagerung in Abendroths Garten umsiedelte. Sie wissen bis heute nicht, warum ihre Gartenkräuter damals so plötzlich verendeten.

Ja, die Sechziger. Von 1967 bis 1971 besuchte ich die damals neu gegründete Phillip-Dieffenbach-Schule. Der erste Schultag war zunächst etwas öde, weil die Erwachsenen in der Aula endlos lange Reden hielten. Danach ging es dann in die Klassen und ich wünschte mir den Augenblick herbei, in dem ich endlich meine Zuckertüte öffnen konnte. Am Nachmittag fragte man mich, wie ich die neue Schule fand, und ich erwiderte diplomatisch: „Ja, ganz schön.“ Was ich jedoch damals aus einem unerfindlichen Grund nicht mitbekommen hatte, war, dass ich von nun an täglich für die nächsten vier Jahre dort auftauchen musste. Wenn man sieben ist, bedeutet das „fast für immer“.

Der Schock sass tief, doch ich gewöhnte mich schnell ein und gewann nach kurzer Zeit ein hohes Ansehen als Stärkste der Klasse. Ob ich das wirklich war, weiß ich bis heute nicht, doch die Jungs, die ich damals in den Schwitzkasten nahm, verbreiteten die Nachricht wie ein Lauffeuer. Denn jedes meiner Schwitzkastenopfer wußte von dem gefürchteten Muskelreiten zu berichten und auch dem I-Tüpfelchen der damaligen Kampfkunst: das Spucken von oben herab auf den Gegner.

Schleimern wurde kurzer Prozess gemacht. Der Junge, der meiner Lehrerin Frau Blochwitz allmorgendlich die Tasche in den ersten Stock hinauftraug, ahnte nichts, als ich ihm die Tasche wegriss und damit die Stufen herauf rannte. Die tote Spitzmaus, die ich auf dem Schulweg gefunden hatte und sorgsam in meinem Schreibmäppchen verstaut hatte, fand so in Windeseile ihren Weg in Frau Blochwitz’ Tasche, die ich sodann auf ihrem Pult deponierte. Jetzt war der Schleimer dran – dachte ich. Sie kam, öffnete ihr Tasche, doch anstatt der erwarteten Ohnmacht oder Schelte des Schleimers rief sie nur „Susie!“ Das gab mir dann doch zu denken.

Aber nicht für lange. Denn die aufregende Neuigkeit von einem Affenmenschen, der in nicht allzuweiter Ferne sein Unwesen treiben sollte, ging mir nicht aus dem Kopf. Bald erspähte ich ihn überall – in Unterholz, hinter Ruppenthals Garage und schließlich – neben dem Feld hinter der Phillip-Dieffenbach Schule, das damals noch nicht bebaut war und im Winter zum Schlittschuhlaufen genutzt wurde. Dort sah’ man – ganz klar – die Silhoutte des schlafenden Affenmenschen auf einem umgepflügten Feld. Oder besser: zunächst sah nur ich die furchterregende Gestalt. Doch nachdem ich meine Mitschüler eingeweiht hatte, waren auch sie so überzeugt, dass sie sich nach Schulschluss nicht mehr nach Hause trauten. Den Pädagogen, die ihnen erklärten, dass es sich nur um einen Berg Zuckerrüben handelte, wurde kein Glauben geschenkt. So mussten denn die genervten Eltern der ABC-Schützen ihre Spößlinge am Nachmittag mit oder ohne Auto abholen.

Bestraft wurde man schon. Ich musste nach mancher Laubschlacht desöftern den Schulhof kehren, denn es gab immer irgend jemanden, der die Klappe nicht halten konnte, wenn die gefürchtete Frage gestellt wurde: „Wer hat das angestiftet?“ Doch insgesamt machte der Unterricht Spaß, und man fand schnell heraus, was gern gehört wurde. Es war leicht durchschaubar, was im Verkehrsunterricht Eindruck schinden würde. Und so schloss ich die Beschreibung meine Schulwegs mit dem Satz: „Ich warte, bis es grün ist und dann schaue ich trotzdem noch mal nach rechts und links, ob vielleicht ein Autofahrer die Ampel nicht gesehen hat.“ Frau Blochwitz fand das – erwartungsgemäß – sehr wichtig und bat mich, den letzten Satz noch einmal vorzulesen. Das ging zwar hart am Schleimen vorbei, kompensierte jedoch meine faux pas. Und so gelang es mir, trotz meiner grottenschlechten Handarbeiten und allzu lebhafter Phantasie, die Grundschule zu meistern.

Doch wir bildeten uns auch außerhalb der Grundschule weiter. Die Illustrierten meiner Großmutter waren eine wahre Fundgrube. So erfuhr ich, dank eines Artikels über die Kommune 1, dass Gruppensex jetzt „in“ ist. Ich hatte keine Ahnung, was Gruppensex ist, verkündete die frohe Botschaft jedoch gern an alle Mitschüler, die es hören wollten. Panik brach aus unter den Pädagogen. Eine Lehrerkonferenz wurde einberufen. Meine Eltern mussten zur Schule kommen und die Sache klären. Die Episode endete mit einem langen Vortrag für mich und die dringliche Bitte an meine Großmutter, uns Kinder fortan zu verbieten, ihre Frau im Spiegel, Das Goldene Blatt und ähnliche Publikationen anzusehen.

Ahoi Brausepulver gab es schon damals. Es war Teil eines überaus wichtigen Rituals, in dem man seinen Mitschülern Freundschaft und bedingungslose Loyalität versprach. Das ganze verlief folgendermaßen: Zwei Grundschüler teilten sich ein Päckchen Ahoi Brause und rieselten es auf die meist nicht ganz sauberen Handflächen. Dann spuckte man auf die jeweils andere Hand, so dass das Pulver begann, wunderbar zu schäumen. Der endgültige Freundschaftsbeweis bestand nun darin, das schäumende Pulver aus eigenen Handfläche heraus zu lecken. Wir haben es alle überlebt und erfreuen uns heute eines robusten Immunsystems.

Im Café Kissler leert sich der Nebentisch, doch die Bilder meiner Grundschulzeit sind mir noch klar vor Augen. Eines morgens, als ich nach meiner Masern-Pause wieder in die Schule kam, sangen alle das Lied von „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“. In jeder Strophe wurden alle Vokale durch einen einzigen ersetzt, was ich damals allerdings nicht wusste. „Dri Chininsin mit dem Kintiribiss …“ Ich war verzweifelt, da ich glaubte, die anderen hätten während meiner Abwesenheit eine andere Spache gelernt, derer ich nun nicht mächtig war. Auch wenn sich die Sache schnell aufklärte, erinnere ich mich noch immer an die Panik, die mich beschlich, dass ich etwas verpasst haben könnte, und dass ich von nun an nicht mehr mitreden könnte.

Doch ich liebte es, Gedichte und Lieder auswendig zu lernen, und so holte ich schnell auf. Noch heute kann ich die Werbeslogans der Sechziger rezitieren. „Wahre Schönheit kommt von innen – Merz Spezial Dragees“, „Wer wir denn gleich in die Luft gehen – greife lieber zur HB!“, „Nicht auszieh’n – nur ansprüh’n!“

Und dann war da noch der unvergessliche Zweizeiler aus dem Schuhgeschäft:

„Lange schallt’s im Walde noch:
Salamander lebe hoch!“

Früher konnten die Leute halt noch reimen.


Susie Vrobel, Juni 2011

Wetterauer Geschichten Teil1

Zurück in der Wetterau! (1)


„Ein Eichhörnchen!“
„Wo denn?“
„Da! Da! Da!”
“Ich hab’s sogar ohne Brille geseh’n!”

Ich bin wieder hier. Nach einem viertel Jahrhundert. Die Kurgäste schieben ihre Rollatoren energisch in Richtung Schweizer Häuschen. Die erste Rast des Tages. Bei einem Eiscafé werden die Neuigkeiten über das neue Hüftgelenk ausgetauscht. Gnädig legt sich die Melodie des Querflötenspielers über die blutigen Details. „Midnight“ aus dem Musical „Cats“. Der Musiker ist fester Bestandteil des Kurparks, so wie die Eichhörnchen und Paddelboote. Letztere sehen allerdings nur diejenigen, die die weiteren 300 Meter zum Teichhaus meistern.

Das Teichhaus ist ein kleines Restaurant direkt am See. Es kommen schon lange keine wohlbetuchten Araber mehr und der letzte Besuch der russischen Zarenfamilie liegt nun schon ein Jahrhundert zurück. Das neue Klientel nutzt die Gelegenheit, die mühsam erkämpften Erfolge der ReHa mit einem Schnitzel Wiener Art zunichte zu machen.

Ein Kraxeln ertönt, zunächst leise, kaum bemerkbar. Niemand scheint sich daran zu stören. Doch es hört nicht auf, wird bedrohlich lauter und lauter. Ich drehe mich um und erkenne im Augenwinkel eine Rotte Nordic Walkers, die sich ihren Weg über die neu angelegten Pfade bahnt wie Colonel Hathis Frühpatrouille aus dem Dschungelbuch. Mit einem gewagten Sprung in die Grünanlagen bringe ich mich in Sicherheit. In Kassel hatten wir uns noch über diese neue Spezies amüsiert: Ach, die Armen – einmal eingekehrt uns schon die Ski geklaut. In Bad Nauheim fühlt man sich ohne Sticks fast nackt.

So bin ich denn wieder angekommen, nackt und waffenlos, ohne Rollator oder Walking Sticks. Seit ich meinen 50sten Geburstag hier gefeiert habe, schiele ich zur Inspiration auf die Gepflogenheiten der jüngeren Bad Nauheimer. Oder besser: der etwas jüngeren. Von meinem Fenster aus sehe ich auf die Usa und die Zanderstrasse, auf der allabendlich Mitt-Vierziger waghalsige Pirouetten auf ihren Roller Blades vollführen. Lieber nicht. Kurz darauf erscheint eine nicht enden wollende Reihe Sedgeways, gesteuert von darauf regunglos verharrenden Gestalten – eine grotesk anmutende Parade versteinerter Kurgäste. Auch nicht das Richtige. Im Gegensatz zu den Aufgeboten der Zanderstraße zeugen die in Zeitlupe ausgeführten Schläge der Minigolfer im Kurpark von einer fast atemberaubenden Wendigkeit. Ich bin noch immer auf der Suche.

So ist das, wenn man zurück kommt. Es ist jedoch keine Pinteresque Erfahrung, und auch die klassische homecoming Thematik trifft nicht zu. Denn der Großteil der Kleinstadt hat das letzte Vierteljahrhundert fast unverändert überdauert. Das Dolomiti Eiscafé auf der Parkstrasse hat noch immer den gleichen Schriftzug wie in den Sechziger Jahren, nur das Sortiment ist etwas angewachsen. Willi’s Pub feiert mittlerweile den 35. Geburtstag. Seit den Siebzigern spielt man hier die gleiche Musik – eine nostalgische Mischung, so ähnlich wie damals im Friedberger Lascaux. Das war eigentlich meine Stammkneipe, auch wenn wir hin und wieder bei Willy in Bad Nauheim einkehrten.

Ach ja – genaugenommen bin ich Friedbergerin, aber da der Wetterauer Mikrokosmos sehr überschaubar ist, habe ich nie so genaue Grenzen gezogen. In Friedberg sind die Veränderungen auffälliger. Vergeblich suchte ich das Salamander Schuhgeschäft auf der Kaiserstrasse. Dort wurde uns damals mit einem Lurchi-Heftchen das langwierige Anprobieren der neuen Halbschuhe erträglich gemacht. Weg. Auch der Fisch-Umsonst ist Geschichte. Manch langer Angelausflug in den Siebzigern endete dort für mich, um die Verwandschaft geschickt über das ausgebliebene Petri Heil hinweg zu täuschen. Die Schule, an der ich zu eben dieser Zeit die Nerven vieler Pädagogen einem Reißtest unterwarf, sieht von vorn noch immer genauso zeitlos aus wie damals. Roter Buntsandstein, die schwere Tür und die Plakette mit der Aufschrift „Augustinergymnasium“. Nur ein Blick um die Ecke gibt die neuen Gebäude preis.

Auch die wunderbar riechende Schillerlinde: zu. Gibt es noch eine Tanzschule im Hotel Trapp? Herr und Frau Wiedemann schickten mich in meiner ersten Tanzstunde gleich wieder nach Hause, da man – da waren sie ganz sicher – nicht in Clogs tanzen lernen konnte. Ich verwies auf die Holländer, die es doch auch zu einer ganz passablen Kultur gebracht hatten, aber es nützte nichts. Wieder neue Schuhe. Diesmal ohne Lurchi-Heftchen. Fortan wurden wir von jenem Paar der Tanzkunst unterwiesen. Praktisch sah das so aus, dass man den ganzen Abend versuchte, den weniger attraktiven Jünglingen, die sich dort en masse versammelt hatten, zu entkommen. Wurde man jedoch einmal zum Tanz aufgefordert, war alles zu spät. Das gebot  - so Wiedemann – die Etiquette. Und dann kam man wieder in den Genuss der hiesigen männlichen Kommunikation: „Ich heiße Andreas und komme aus Ossenheim. Mein Hobbies sind Schwimmen, Briefmarken sammeln und Tanzen.“ Da musste man durch.

Früher war halt alles besser.

Susie Vrobel (Kurstätterin)
Mai 2011