Montag, 27. Mai 2013

Wetterauer Geschichten Teil 16

Zurück in der Wetterau (Teil 16)

Nein, ich habe noch keinen 3-D Drucker. Aber ich habe ein wachsames Auge auf die neue Technologie geworfen, denn sie ruft längst vergessene Gedankenexperimente wieder ins Bewusstsein aus einer Zeit, in der wir gern unsere Double Bubbles ad infinitum dupliziert hätten.

Das Sechziger-Jahre Pendant zum 3-D Drucker war Daniel Düsentriebs Duplikator. Ältere Semester erinnern sich an die Wundermaschine des quirligen Erfinders aus Entenhausen. Der Duplikator benötigte keine Kunstharze und konnte alles von Brotschmiermaschinen bis hin zu Gespenstern und anderen Lebewesen in einem Sekundenbruchteil klonen („klonen“ hieß das damals allerdings noch nicht).

Fragte man damals ein Kind, was es sich am meisten wünsche, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen: „Einen Duplikator.“ Das war die cleverste Antwort nach „Zauberstab“. Wir wussten natürlich, dass fast alle Erfindungen des Entenhausener Erfinders in einem Desaster endeten. Doch die Idee war geboren und ging uns nicht mehr aus dem Kopf.

Fortan unterteilte man die Welt in Dinge und Personen, die man gern replizieren würde und solche, die bereits als Einzelexemplare schwer zu verdauen waren. Meine Matchbox- und Schneckensammlung waren beispielsweise „potenzielle Duplikator-Kandidaten“, während meine Handarbeitslehrerin in der Grundschule definitiv ein Fall für die „Bloß nicht!“-Kategorie war.

Jene Dame verstand es, uns wöchentlich zu demoralisieren, wenn wir uns mit unseren Häkelarbeiten in einer Reihe zur Inspektion aufstellen mussten. Während dieser Prozedur blieb meist kein Auge trocken, da sie mit gezieltem Blick immer – irgendwo weit unten – einen zu eng oder zu lasch gehäkelten Teil ausmachte und daraufhin das gesamte Werk „aufröppelte“.

Dass ich weder zum Häkeln noch zum Stricken geboren war, wurde mir früh klar, also übernahm meine Oma die Handarbeiten. Das ging auch eine Weile ganz gut, bis sie drei Wochen in Kur war und ich meinen nun gezwungenermaßen selbstgestrickten Schal nächtelang unter schweren Möbelstücken langziehen musste, um der erforderten Länge ein wenig näher zu kommen. Es half aber alles nichts, das löchrige Produkt maß am Ende der Woche kaum 20 cm. Es war jedoch inzwischen so festgezogen, dass es sich sogar dem wöchentlichen „Aufröppeln“ widersetze. Bei den Pfadfindern hätten mir solch unlösbare Knoten großes Lob beschert, nicht jedoch bei besagtem Lehrkörper.

Aber zurück zur Welt der Literatur. Daniel Düsentrieb war nicht der einzige Comic-Held, der begehrenswerte Objekte besaß. Auch der Kater Felix hatte eine Tasche, die wie ein schwarzes Loch, vom Butterbrot bis zum Kleinwagen, alles in sich aufnehmen konnte. Aber mit einer schwarzen Handtasche herumzulaufen war auch damals äußerst uncool. Und so sahen wir uns nach passenderen Helden um. Plastic Man aus den Marvel Comics war nur bedingt nachzuspielen – man musste jeweils ankündigen, wie weit Arme oder Beine ausgestreckt waren, um den Bösewicht zu erwischen: „Plastic Man- ich habe dir ein Bein gestellt!“ Doch nur die ganz Unerfahrenen ließen sich daraufhin zu Boden fallen. Viertklässler verwandelten sich sofort in Invisible Woman und waren rückwirkend unsichtbar.

Neben den in ganz Friedberg herumgereichten und meist schon leicht zerfledderten Comicheftchen hüteten wir jedoch auch literarische Schätze ganz anderer Art: Jedes Kind hatte ein Poesiealbum, in das Familie und Freunde tiefsinnige Verse eintrugen, die mit eingeklebten bunten Bildchen und Zeichnungen verziert wurden. In die vier Ecken der linken Seite malte man kleine Dreiecke mit kurzen Texten: „Blaue Augen, roter Mund, liebe Susi, bleib’ gesund!“ Manchmal wurden die Ecken zu kleinen Täschchen gefaltet, die man aufklappen konnte um ganz persönliche Nachrichten zu lesen oder eher redundante Einträge („Fürs Poesiealbum“). Auf der rechten Seite standen die Ratschläge fürs Leben.“Wer sich an and’re hält, dem wankt die Welt. Wer auf sich selber ruht, steht gut.“ „Pahradis“ tauchte fast in jedem Gedicht auf, auch wenn es keiner so richtig buchstabieren konnte.



Ich habe mein Poesiealbum noch immer. Neben Lebenshilfe und ermahnenden Versen finden sich dort auch pädagogisch weniger wertvolle Eintrage, wie die meines Vaters („Wer Ordnung hält ist nur zu faul zum Suchen“) und meines Bruders („Nachts ist’s kälter als draußen“). Mit diesem Schatz an Lebensweisheiten konnte ja nichts mehr schief gehen.

And so it goes …

Doch zurück zu Daniel Düsentrieb, der uns allen einen alternativen Berufswunsch vorlebte (falls man nicht Astronaut werden konnte). Ich selbst habe eine Rühreimachmaschine erfunden und gebaut, mit Wartesaal für die Eier. Und eine Schuhputzmaschine mit blauen Gummimäusen. Nun, die Prototypen sind dem Sperrmüll zum Opfer gefallen und weitere Versionen gab es nicht. Einen Duplikator habe ich leider nie konstruieren können, und so sind die 3-D Drucker eine Art verspätete Erfüllung meiner damaligen Aspirationen. Heute würde ich mir statt duplizierter Häkelreihen oder Weinbergschnecken wohl eher 4-tägige Wochenenden wünschen. Bisher klappt es mit er Zeitdilatation noch nicht, aber ich bin optimistisch.

Denn damals war halt alles langsamer.

Susie Vrobel


Mai 2013

Freitag, 10. Mai 2013

Wetterauer Geschichten 15

Zurück in der Wetterau! (Teil 15)

Vivi Bach ist nicht mehr unter uns! Ich nehme die Nachricht mit Fassung auf, denn die Dame mit dem unvergleichlichen Akzent wurde immerhin 73. Anfang der Siebziger war ich ein Fan der Familienshow Wünsch Dir was, die die Verblichene an Dietmar Schönherrs Seite moderierte. Die Show sorgte regelmäßig für Aufregung und Gesprächsstoff auf dem Pausenhof. Einige meiner Mitschüler durften die Sendung nicht mehr anschauen, nachdem eine junge Dame in durchsichtiger Bluse auf dem Bildschirm erschien.

Es waren Zeiten, in denen man ohne nähere Differenzierung fragen konnte: „Hast du gestern ferngesehen?“ Und jeder wusste genau, wovon man sprach: Mama Hesselbach hatte ein Dreckrändchen am Sahnetopf entdeckt, den sie am Vorabend großzügig der Nachbarin geliehen hatte: „Ei gehnse fott – mir habbe doch genuch dadedevon!“. Gut, es gab zwar schon drei Kanäle, doch das Programm begann erst am späten Nachmittag mit der Kinderstunde und endete weit vor Mitternacht mit dem Testbild. Übersichtlich.

Hat meine Generation Schaden davon getragen, mit einem solch limitierten Schatz an medialem Entertainment aufzuwachsen? Schwer zu sagen – der Blaue Bock vor Heinz Schenks Pappkulisse hat wahrscheinlich das ein oder andere Neuronenensemble in den kollektiven Selbstmord getrieben. Und auch das Königlich Bayrische Amtsgericht rangierte weit oben auf der Liste der damaligen Verblödungskandidaten.

Doch bin ich mir sicher, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl meiner Generation durch die eingeschränkte Auswahl an TV-Sendungen gestärkt wurde. So teilt meine Generation noch heute die Weisheiten des Hasen Cäsar, der die Schlager für Schlappohren moderierte: „Bitteschööön!“ Meine ersten Erinnerungen an die Kinderstunde der Sechziger sind etwas verschwommen: “Turnikuti turnikuta, Zebulon ist wieder da!“ Wie öde Stoffel und Wolfgang waren fiel uns nicht weiter auf, da unsere Sehgewohnheiten nahtlos an das Zeitlupentempo der Sechziger angepasst waren.

Die Zwillinge Trevor und Tracy aus Please don’t Eat the Daisies konnte niemand auseinander halten. Doch das konnte man gut verdauen, denn sehr viel komplexer wurde das Programm nicht: Lieber Onkel Bill langweilte sogar die Grundschüler. Ein Lichtblick waren Flipper und Daktari, da sie uns die Fauna jenseits der Wetterau ins heimische Wohnzimmer katapultierten. Wir spielten die Abenteuer nach, doch keiner wollte die Rolle von District Officer Hedley übernehmen.  Fürs Urmeli waren wir eigentlich schon zu alt, aber ich verwette meine Ranch, dass fast alle 52-jährigen das Urmellied heute noch singen können.

Die Kulisse im Beatclub und anderen Musiksendungen erinnerte meist an eine Baustelle. Es war damals überaus schick, sich beim Singen durch Baugerüste zu schlängeln. Von Udo Jürgens sah man selten mehr als den Kopf und die ein oder andere Extremität, die hinter einem Querträger hervorlugte. Playing hard to get.  Ich habe nie den tieferen Sinn dieser   Baugerüste verstanden.

Die Printmedien waren ebenfalls mehr als übersichtlich. Noch heute kommen uns die lateinischen Zitate aus Asterix mühelos über die Lippen. Wer, wie ich, weder das kleine noch das große Latinum absolviert hatte, konnte sich doch wenigstens mit dem großen Asterix Abschluss schmücken.

Radio hörte man damals meist vor der heimischen Stereoanlage, die aus einem Plattenspieler, Kassettenrecorder und normalem Radio bestand (das Wort Tuner hatte damals noch niemand in den Mund genommen) und eine halbe Tonne wog, oder – mit fortgeschrittenem Alter – abends im Auto. Vor grauen Vorzeiten gab es in unserem VW Käfer ein Radio mit fünf weißlichen Tasten und zwei beigen Knöpfen, die mit einer gekonnten Umdrehung sämtliche Sender abdeckten. Die Auswahl war limitiert, jedoch fand man im den Amisender AFN Frankfurt ohne Hinzugucken – etwa bei 96. Casey Kasems countdown der Top 40 war ein must. Und wer in den Siebzigern erst Mittags aus den Federn fand, dem half Charlie Tuna, den Tag zu strukturieren. Doch in diesen Genuss kamen wir erst später, denn wir mussten natürlich gegen sieben Uhr dreißig das Haus verlassen, um uns rechtzeitig in der Augustinerschule in Stolle Willis Klasse einzufinden.

Doch der Sender hatte auch mehrere Programme zum Abgewöhnen auf Lager. Da war zum Beispiel die tägliche German Phrase of the Day – meist von limitiertem kommunikativen Wert: „Heute ist Ostermontag“. Wer am Samstag Nachmittag zum Autowaschen etwas Unterhaltung begehrte, der war erbarmungsloser Country-Musik ausgeliefert. My Kind of Country, my Kind of Music plänkerte den gesamten Nachmittag über den Sender.

Der Amisender begleitete mich noch während meines Studiums. So verdiente ich mir mit einem Detektivjob im Rohbau des Dolce ein paar Mark. Der Job war überaus angenehm und erlaubte mir, zwei Hausarbeiten in Linguistik und Literaturwissenschaft zu verfassen, während ich Charlie Tuna zuhörte und nebenbei natürlich gewissenhaft meinen Job absolvierte: auf einem Stuhl zu sitzen.

Stay tuna!

Früher war halt alles packender.

Susie Vrobel, Mai 2013