Donnerstag, 17. November 2011

Wetterauer Geschichten Teil9

Zurück in der Wetterau (9)

Es ist Herbst in Bad Nauheim und die ein oder andere Nasenspülung mit Salz hilft über die ersten Erkältungen hinweg. Doch die Spülungen wecken auch Erinnerungen ganz anderer Art und lassen mich längst verdrängte Momente meiner Jugend noch einmal durchleben: Kaltes Wasser dringt in die Nase und Nebenhöhlen ein, Luftholen ist nur noch durch den Mund möglich, aber wenn auch der sich unter Wasser befindet, setzt ein Gefühl von Panik ein. Wann wurden diese neuralen Netze generiert, die durch einen einzigen Stimulus solch lebhafte Erinnerungen hervorrufen?

Anfang der Siebziger fand unser wöchentlicher Schwimmunterricht im alten Friedberger Hallenbad in der Haagstrasse statt. Wir drängelten uns links am Kartenschalter vorbei in die Umkleidekabinen, während unser Schwimmlehrer seinen Friedrich Willhelm in eine Liste eintrug. Das Umziehen dauerte knapp drei Minuten, und schon zwängten wir uns durch den schmalen Eingang zum Beckenrand. Ab jetzt herrschten theoretisch neue Regeln: kein Schubsen und kein Rennen mehr, da man leicht ausrutschen und auf die harten Fliesen fallen konnte. Die Praxis sah natürlich anders aus.

Der erste Schock stand gleich zu Beginn der Schwimmstunde an: die eiskalte Dusche an der Treppe des kleinen Nichtschwimmerbereichs. Ich erinnere mich noch gut an die schnatternden Gestalten, die sich nun in einer Reihe am tiefen Becken versammeln mussten: Sextaner in nassen Badehosen oder Bikinis, die fortwährend an den handelsüblichen, nie richtig sitzen wollenden Noppenschwimmhauben zerrten, and denen beim Ausziehen immer ein paar Haarbüschel hängenblieben.

Dann begann die Tortur: Unser Schwimmlehrer warf einen kleinen, massiven Gummiring ins Wasser, den niemand wirklich wieder herausholen wollte. Doch es gab kein Entrinnen. Und so sprang ein Kind nach dem anderen – mehr oder weniger graziös – in das kalte Wasser, um den Vollgummiring zu retten. Es war wirklich sehr tief – besonders, wenn man erst elf war – und das im Wasser gelöste Chlor brannte in den Augen. Nach einer Viertelstunde sahen wir alle aus, als hätten wir eine Nacht durchzecht.

Danach bildeten wir die zweite Schlange – diesmal ein paar Meter weiter rechts, vor dem Ein-Meter Brett. Hier trennte sich nun die Spreu vom Weizen: Zwei bis drei Feiglinge genügten, um den Rest der Klasse, in der Schlange vor Kälte schnatternd, von friedlichen Kindern in aggressive Bullies zu verwandeln (das Wort Bullies gab es damals noch nicht – es waren Rabauken oder Fieslinge: „Spring schon!“, „Feigling!“, „Muttersöhnchen!“, „Memme!“ ). Nach einigen gefühlten Ewigkeiten ging es dann endlich weiter, wenn die Memmen auf allen Vieren rückwärts auf dem Brett zurückkrochen und sich wieder hinten anstellten.

Danach schwammen wir „Bahnen“ und irgendwie erhielten alle am Ende des Schuljahres das Freischwimmer-Abzeichen, das fortan unsere Badehosen kürte. Doch bis dahin war es ein harter Weg. Woche für Woche erfüllten wir unser Soll. Die schöne Jugendstilarchitektur des Bauwerkes ging uns damals an der Badehose vorbei.

Erschöpft und mit nassen Haaren schleppten wir uns mit letzter Kraft zur Pommesbude in der Bismarckstrasse. Für sechzig Pfennig gab es dort eine Tüte Pommes rot-weiß, die nach der allwöchentlichen Tortur unsere wackligen Knie wieder standfest machte.

Kauend schlenderten wir auf der Ludwigstrasse in Richtung Augustinerschule, vorbei am Pali-Kino, ein uns damals riesig erscheinendes Gebäude, in dem Generationen von Schulkindern die Fauna jenseits der Wetterau kennen lernten. Gebannt starrten wir auf die Leinwand, wenn das Schicksal Namus, des Raubwals schon fast besiegelt schien. Bei manchen Filmen flossen ein paar Tränen, die jedoch schnell wieder weggewischt wurden, da man solche Schwächen lieber vor seinen Mitschülern verbarg. Doch als die Löwin Elsa am Ende wieder in den Weiten der Savanne verschwand, blieb kein Auge trocken. Und so hörte man die Titelmelodie von Born Free noch Tage nach dem gemeinsamen Kinobesuch im Schulbus und in der Schlange vor dem Hausmeisterkiosk.

Die Badekappen mit Noppen wurden Anfang der Siebziger dem flower power image angepasst und mit klebrigen Plastikblumen verziert, in denen sich nun noch mehr Haare verfingen. So ist das mit dem Fortschritt.

Wenn eines Tages, in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft, das alte Hallenbad in ungekannt trocknem Ambiente als Theater seine Türen wieder öffnet, werde ich mich wohl im Kreise einiger Besucher meiner Generation wehmütig der guten alten Zeit erinnern und in mehr oder weniger geistreichen Resumées Bilanz ziehen:

„Damals war es nasser.“

Susie Vrobel, November 2011



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