Donnerstag, 18. April 2013

Wetterauer Geschichten 14

Zurück in der Wetterau (14)

 „Erwin! Ich bin bei der Marmelade!“

Dieser markerschütternde Schrei erschallte unlängst im Tegut in der Stresemannstrasse. Rentner haben in der Regel kein Smartphone und vertrauen bei der Kontaktaufnahme auf ihr durchtrainiertes Organ. Dies verursacht zwar den ein oder anderen Schock unter den noch gut hörenden Einkäufern, doch ist der Rapport in der Regel schnell wieder verhallt. Sobald sich mein Puls wieder eingependelt hatte, relativierte sich das anfängliche Urteil schnell: Immer noch besser, als das nicht enden wollende Geplapper der Mobilfunknutzer.

Es gab Zeiten, in denen solch Zugeständnisse niemandem in den Sinn kamen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass außer Captain Kirk und Spock niemand über zigarettenpäckchengroße devices kommunizieren konnte. Es war die Zeit des „Kleinen Tierfreunds“, in denen man das limitierte, jedoch in Ruhe aufgesaugte Wissen oder auch haarsträubende Gerüchte erst dann weiter geben konnte, wenn man entweder einen wissbegierigen Zuhörer oder eine captive audience in Fleisch und Blut vor sich hatte.

Es waren die frühen Siebziger. Wir erfreuten uns damals wunderbarer Auszeiten, in denen man nicht überwacht wurde. So kämpften wir uns als 12-jährige nach einem halben Jahr Französischunterricht drei Tage und Nächte ohne Erwachsene durch Südfrankreich. Das Projekt (in den 70ern wurden fast alle nicht unmittelbar verständlichen Aktionen als Projekt bezeichnet) war französisch sprechenden Zeitgenossen als trappeur bekannt. Unsere Eltern glaubten uns wohlbehalten und unter Aufsicht in einem Pfadfinderlager irgendwo an der Dordogne, doch die Realität sah anders aus.

Mit Zeichensprache, Kompass und einem Schweizermesser schlugen wir uns (zwei französische und zwei deutsche 11- bis 12-jährige Pfadfinder) durch die Felder weit ab jeglicher Zivilisation. Wenn wir müde wurden, schlugen wir unser Zelt auf, klauten ein paar Maiskolben und grillen sie über dem Lagerfeuer. Die erste Feuerwache schlief sofort ein, so dass wir uns ohne Frühstück und in klammen Klamotten wieder auf den Weg machen mussten.

An diesem Morgen bemerkte ich, dass wir seit einigen Stunden die Spur eines Berglöwen kreuzten. Und so folgten wir vorsichtig dem ausgetrockneten Flusslauf, immer Ausschau haltend nach verborgenen Großkatzen. Florence sprach immer wieder das nicht stattgefundene Frühstück an, doch nun gab es existenziellere Bedrohungen. Ich hatte mein Messer zwischen die Zähne geklemmt, um beide Hände frei zu haben, falls sich die Bestie auf uns stürzen würde (die anderen waren nicht bewaffnet). Nach einigen Flussbiegungen glaubte ich selbst an meine Schauergeschichten und auch meine Knie wurden weich. Die drei Tage des trappeur erschienen endlos – menschenleere Feldwege, und keine Telefonzelle weit und breit (Smartphones gab es noch nicht) – doch irgendwie erreichten wir schließlich das Dorf, in dem wir uns mit dem Rest der Truppe verabredet hatten. Und so verdreckt und verschwitzt wie wir damals wieder in die Zivilisation eintauchten war es wohl ganz gut, dass es keine social networks gab, um dem Rest der Welt zu zeigen, welch aufregendes Leben man führte.

Jetzt läuft der Hase etwas anders. Auf meiner facebook wall tummeln sich in viertel-stündigen Intervallen Einträge meiner Bekannten, die nun alle Hände voll zu tun haben, dem geschmackvollen, gebildeten und attraktiven Avatar zu entsprechen, der sich mir nichts dir nichts im virtuellen Raum entwickelt hat.
Und wehe, ich finde das Foto der Katze oder des Sprösslings nicht „süß“, die Aufnahmen von vorbeifahrenden Autos nicht geil, geil … oder signalisiere nicht schleunigst meine tiefe Betroffenheit.
Böse Zungen behaupten, dass ich nichts hochlade, weil ich nach meinen Angelausflügen außer einer verwurschtelten Leine und ein paar Kratzern nichts vorzuweisen habe.

And so it goes ...

Wo war ich? Ach ja – im Tegut. Erwin sehnt sich wahrscheinlich zurück in die Zeiten der Tante Emma Läden, wo er und die Marmelade leichter zu lokalisieren waren als im neuen A&O in der Taunusstraße.

Und jetzt fällt es mir schwer, den gewohnten Abschluss mit „Aber früher waren wir halt …“ zu finden. Mike Brady wäre wahrscheinlich der Einzige, der hier noch etwas hinzufügen könnte.

Susie Vrobel, April 2013

Dienstag, 8. Mai 2012

Wetterauer Geschichten Teil13


Zurück in der Wetterau! (Teil 13)

Neulich sah ich einen älteren Herrn mit nur einem Skischuh und ohne Stöcke in die Trinkkuranlage schlendern. Zunächst dachte ich mir nicht viel dabei. Denn ein Großteil der hiesigen Bevölkerung läuft ja auch mit Skistöcken ohne die zugehörigen Schuhe durch die Kuranlagen. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich die Unterschenkelausstattung jedoch als Orthesenstiefel. Das Wort – ich habe es erst letzte Woche gelernt – kommt nur schwer über die Lippen und ich schaue dem Kurgast neidvoll nach, der sich heute nicht mehr den Qualen eines Gehgipses aussetzen muss.

Mein letzter Gehgips und auch der meiner Freunde sah in den Siebzigern anders aus. Knöchelbrüche zog mal sich damals überall zu. Mein Blutsbruder Kater knickte beim Fußballspielen auf dem Feld um, ich selbst – weniger glorreich – im Roxy Kino während der Rocky Horror Picture Show. Damals bedeutete ein Knochenbruch sechs Wochen drastischer Einschränkungen mit einem schweren Gipsbein. Den Gehgips bekam man erst ein paar Wochen nach dem Unfall verpasst. Es war eigentlich nicht mehr als ein Klotz, der unter der Ferse am Gips angebracht wurde. Das erforderte viel Geduld – eine Tugend, für die weder ich noch mein Blutsbruder bekannt waren.

Und so kam es auch, dass wir eines abends beschlossen, nicht weiter auf ihren Gehgips zu warten und, als Geister verkleidet, die Nachbarschaft in Angst und Schrecken zu versetzen. (Ja, „ihren“ ist schon richtig – mein Blutsbruder war meine beste Freundin, aber da es damals keine „Blutsschwestern“ gab, als wir uns, nach unseren Vorbildern Winnetou und Old Shatterhand in die Finger ritzten und das Ritual vollzogen, nannten wir uns fortan Blutsbrüder.) Wie so oft schliefen wir in Sommernächten – als echte Pfadfinder – draußen im Garten meiner Eltern in unseren Schlafsäcken. Sobald es dunkel wurde, streiften wir uns zwei Bettücher über und schlichen mit schauderhaftem Geheule durch die nachbarlichen Gärten. Der Erfolg war nicht gerade durchschlagend – einige Opfer schlossen geräuschvoll die Fenster, andere blieben ungerührt vor dem Fernseher sitzen. Die Nachbarin an der Ecke erkannte uns sofort, schmiss sich sofort ans Telefon und petzte. Wir bekamen Hausarrest und mein Blutsbruder durfte erst mal nicht mehr bei uns im Garten übernachten.

Aber die Gipsbeine hatten auch ihr Gutes. War man beliebt, füllte sich bald jeder Quadratzentimeter mit Unterschriften und kleinen Kunstwerken. Einen Gehgips konnte man früher besser bemalen, da kein Plastik im Weg war. Und so war man trotz wiedergewonnener Freiheit ein wenig traurig, wenn das Erinnerungsstück beim Abnehmen rücksichtslos zerschnitten wurde.

Auch andere Unpässlichkeiten wurden damals rabiat behandelt. Bei Verstopfungsproblemen wurde ein Esslöffel Rhizinusöl gereicht, der ekelhaft schmeckte und dessen Wirkung fast umgehend einsetzte. Alle, die jemals einen Löffel dieses schwabbeligen Trans herunterwürgen mussten, wissen was ich meine.

Läuse hatten wir zwar selbst nicht, doch wenn alljährlich ein Zirkuskind für ein paar Tage am Grundschulunterricht teilnahm, kratzte sich bald die ganze Klasse unablässig am Kopf. Ich weiß nicht mehr, was man damals in Friedberg gegen das Ungeziefer einsezte, doch ein paar Jahre später, im Sommercamp der Pfadfinder an der Dordogne, wurden wir von Kopf bis Fuß mit DDT-Pulver eingesprüht. Damals scherte man sich noch nicht um gesundheitliche Bedenken hinsichtlich des Pulvers, und so sahen wir nach der Ganzkörperbehandlung alle aus wie grauhaarige Zombies – das war ein Erinnerungsfoto wert.


 Die Zirkuskinder in der Grundschule wurden trotz des ihnen angedichteten Ungezieferbefalls von allen beneidet, kannten sie doch nicht nur den Löwenbändiger persönlich, sondern auch Tiger und Elefanten beim Namen und wahrscheinlich durften sie auch in schwindelnden Höhen einen Salto Mortale trainieren. 

Doch zurück zur Medizin. Auch OPs waren damals furchteinflößender – zumindest der Teil, den man noch mitbekam. Als mein Bruder und ich in Nieder-Weisel von unseren Rachenmandeln Abschied nahmen, wurden wir mit Chloroform betäubt: Ein Assistenzarzt – oder vielleicht war es auch der arbeitslose Cousin des Chirurgen – saß auf einem Stuhl in der Ecke des OPs. Er trug als einziger normale Strassenkleidung, alle anderen Erwachsenen waren in weiße Kittel gekleidet. Ohne Vorwarnung wurde ich auf den Schoß des Cousins gesetzt und im gleichen Augenblick hielt er meine Arme und Beine fest, nahm ein weißes, in Chloroform getränktes Tuch, und presste es auf mein Gesicht. Es dauerte nur ein paar Sekunden, und ich war weg, doch diese waren mit Panik erfüllt.

Manche Missgeschicke bedurften glücklicherweise keiner Operation, wenn es auch zuerst so ausgesehen haben mochte. Mein damals schon verantwortungsvoller Forscherdrang veranlasste mich früh, Experimente zunächst an mir selbst durchzuführen. Ich erinnere mich noch genau, wie mein Vater alles stehen und liegen ließ, mich ins Auto trug und wir in einem Affenzahn zu Dr. Seitz fuhren. Ich hatte mir eine Murmel in die Nase geschoben und konnte daher nicht mehr so frei atmen wie gewohnt. Vielleicht war ich auch schon etwas blau angelaufen, denn ich durfte sogar vorne im Auto sitzen. Im Wartezimmer angekommen, sahen mich alle besorgt an, und ließen uns bereitwillig vor. Doch just in dem Augenblick, als ich hereingerufen wurde, klickte es und alle Blicke folgten der Murmel, die nun lautlos, endlich befreit, über den Boden des Wartezimmers rollte. Schwein gehabt. 

Auf dem Weg zur Phillip-Dieffenbach-Schule überquerte ich allmorgendlich eine Brücke mit Aluminiumgeländer (es existiert heute noch), die über den winzigen Bach führte. An einem eisigen Wintermorgen war das Geländer mit wunderschönen weißen Kristallen übersäht. Um zunächst herauszufinden, wie kalt der Rauhreif war, testete ich die Oberfläche, indem ich kurz drüberleckte. Es war wirklich sehr kurz, doch die wenigen Sekunden genügten, meine Zunge am Geländer festfrieren zu lassen. Auch hier beschlich mich ein Moment der Panik, obwohl ich mir dies nicht anmerken ließ, als meine Klassenkameraden an mir vorbei zum Schulgebäude liefen. Ich versuchte den Anschein zu erwecken, dass ich mich vor Vergnügen kaum losreißen konnte. Doch ich saß nicht nur fest, es tat auch höllisch weh – ich zerrte und spuckte und irgendwie kam ich plötzlich los. Meine Zunge tat noch tagelang weh und nicht mal die Fischstäbchen wollte so richtig schmecken, aber ich ertrug es mit der stoischen Ruhe eines Grundschülers, der sich keinerlei Blöße geben wollte.

Manchmal halfen auch bloße Androhungen, um sich aus missgeschicklichen Lagen zu befreien. Als ich versuchsweise meinen Kopf durch Stahlverstrebungen am Treppengeländer meiner Großeltern schob – rein ging ganz einfach, nur raus leider nicht mehr, da die Ohren nun im Weg waren – entschied meine die Familie, dass man wohl besser die Feuerwehr rufen sollte. Das wirkte Wunder, und wenn auch meine Ohren seitdem wohl in einem anderen Winkel abstehen – das Gefühl, sich selbst befreit zu haben, stärkte das Selbstbewußtsein ungemein.

Viele gutgemeinte Ratschläge ignorierte ich jedoch, insbesondere die meiner Großmutter, die Mückenstiche mit Spucke heilte und Warzen mit Magie. Für alle diejenigen, die es trotzdem einmal ausprobieren möchten, hier ihr Rezept: Man vergräbt bei Vollmond eine Speckschwarte an der linken Hausseite und wenn diese verottet ist, ist man auch seine Warzen los. Sie schwörte drauf – großes Pfadfinderehrenwort.

Susie Vrobel, Mai 2012

Sonntag, 12. Februar 2012

Wetterauer Geschichten Teil12

Zurück in der Wetterau (12)

Ganz Gallien? Nein. Nur die kleine Ortschaft Bugarach ist besetzt – von Esoterikern aus aller Welt, die in dem idyllischen Örtchen ausharren, um dem Weltuntergang entgegen zu fiebern. Denn, wie jeder weiß, wird dieser kurz vor Weihnachten eintreten. Genauer gesagt, am 21. 12. 2012, denn – so sagt man – endet just an diesem Tag der Maya-Kalender. Nein, ich habe nicht mein Zelt in Bugarach aufgeschlagen, sondern sitze noch immer gemütlich in meinem Appartment in Bad Nauheim, da mit fortgeschrittenem Alter mein Sättigungsgrad an Weltuntergängen erreicht ist.

Das war natürlich nicht immer so. Und es tut mir auch etwas Leid, dass ich heute so abgestumpft auf die Ankündigung solch kosmischer Ereignisse reagiere. Denn obgleich wir zwischen Spott und Panik oszillierten, wenn uns ein Blick auf die im Schulbus verrottende Bild-Zeitung mal wieder das Armageddon verkündete, hatten diese Bedrohungen auch ihr Gutes. Man wurde aus dem Alltagstrott herausgerissen und beschäftigte sich plötzlich mit tiefen Sinnfagen: Lohnt es sich noch, für die Mathearbeit zu lernen? Wozu Vokabeln büffeln, wenn der Komet die Erde noch vor Fasching in tausend Stücke reißen wird?

Doch auch wenn man solche Schlagzeilen souverän ignorieren konnte, schwebte damals immer ein ganz reales Damokles-Schwert über uns. Es war die Zeit des Kalten Krieges und wir befanden uns auf dem potentiellen Schlachtfeld der Supermächte. Schon früh wurde diese Bedrohung pädagogisch ausgeschlachtet. Im Religionsunterricht an der Philipp-Dieffenbach Grundschule wurde unsere Lehrerin damals in den Sechzigern nicht müde, uns immer wieder klar zu machen, dass wir uns gut benehmen müssen, da ja das Jüngste Gericht theoretisch jederzeit anstehen könnte. Denn, so fuhr sie fort, könnte ja jederzeit und ohne Warnung eine Atombombe auf uns abgeworfen werden. Zu Hause fragten wir dann nach: Ja, theoretisch schon, aber wir sollten uns mal keine Sorgen machen. Das hatte den gleichen Effekt, als wenn man uns sagte, wir sollten nicht an einen blauen Elefanten denken, wenn wir an der Ampel stehen. Und so wuchsen wir mit der Gewissheit auf, dass es sich auf jeden Fall lohnt, jeden Tag zu genießen. Im Teenageralter wurde daraus unser Lebensmotto: Carpe Diem.

In der Grundschulzeit kam für alle Schüler irgendwann der Tag, an dem man nachmittags zum Kommunions- oder Konfirmationsunterricht geladen wurde. Da ich katholisch war, bereitete uns Pfarrer Heininger auf den großen Tag vor. Er war sehr freundlich und redete uns immer mir „Kinderlein“ an, was zwar etwas nervte, aber längst nicht so schlimm war wie die Tatsache, dass man nie wusste, wen er gerade anschaute. Das lag natürlich daran, dass der arme Mann ein Glasauge hatte. Jede seiner Fragen wurde mit einem Chor von Kinderstimmen erwidert: „Ich?“, „Meinen Sie mich?“, „Anni, er guckt dich an!“.

Wir fertigten aus Buntpapier kleine Bilder an, in denen das Jesuskind, umringt von Maria, Josef, den Heiligen drei Königen und allerlei Getier auszumachen war. Die gelungeneren Werke wurden aufgehängt. Einige der Kinder hatten wohl ein wenig gezündelt, denn das Jesuskind meines Klassenkameradens Robert war leicht geschrumpft und and den Rändern angeschmort. Es wurde daraufhin von den anderen Kindern als „verbruzzelt“ verhöhnt und nicht aufgehängt. Nicht einmal im Kommunionsunterricht ging es gerecht zu.

Und so näherte sich der Tag, an dem wir unsere mühsam einstudierten Schritte in der Heilig-Geist Kirche zum ersten Mal vor Publikum absolvieren sollten. Der Tag kam, und wir wurden herausgeputzt wie die Pfingstochsen. Meine schöne bequeme Alltagskluft musste einem weißen Kleid, weißen Stumpfhosen und weißen Schuhen weichen. Auch mein Bruder konnte sich in seinem dunklen Anzug mit Hemd und Fliege nicht so richtig entspannen. Dazu bekamen wir lange weiße Kerzen mit einem weißen Fummel am unteren Ende, der wohl die Hände vor heruntertropfendem Wachs schützen sollte. Vor der Kirche angekommen, sahen wir mit Genugtuung, dass es den anderen Kindern ähnlich ergangen war. Alle zupften und zerrten an der ungewohnten Kleidung während sich der Zug in Zweierreihen nun unter Pfarrer Heiningers Anleitung in die Kirche und dann langsam in Richtung Altar vorschub. Die Choreographie war zwar seit Monaten einstudiert – an gewissen Stellen musste man im Schritt verharren, dann wieder drei Schritte weitergehen und beim Einsetzen der Musik wieder stehen bleiben. Natürlich konnte sich keines der Kinder an die Schrittfolge erinnern, da wir im Kommunionsunterricht die meiste Zeit damit verbracht hatten, auf Pfarrer Heiningers Glasauge zu starren. Und so erinnerte die Kinderschlange, der sich von einer Karrambolage in die andere langsam vorwärts schob, eher an Colonel Hathis Frühpatroullie als einem frommen Kommunionszug.

Irgendwie kamen wir alle heil wieder aus der Kirche heraus und begannen, endlich zu Hause angekommen, sofort uns unsere Festtagskleidung vom Körper zu reißen. Verfrüht jedoch, wie sich sofort herausstellte. Denn zuerst stand noch der Fototermin an. Inzwischen hatten mein Bruder und ich bereits die Kerzen in Schwerter verwandelt, uns selbst in Errol Flynn und Zorro, und forderten uns mit einem klassischen „En garde!“zum Kampf heraus. Leider waren die Kerzen nicht kampftauglich, doch wir meisterten die Schadensbegrenzung, indem wir die Einzelteile geschickt übereinander balancierten, während wir mit unschuldiger Miene für die Kamera posierten.


Ja, eigentlich fing dieser Post mit dem bevorstehenden Weltuntergang an. Wie auch immer dieser einmal aussehen wird – ob wir Außerirdischen oder dem Jüngsten Gericht entgegen treten – ich glaube wir sind gut gerüstet. Ein Blick auf das Kommunionsphoto wird alle höheren Instanzen verträglich stimmen.

Susie Vrobel, Februar 2012

Donnerstag, 19. Januar 2012

Wetterauer Geschichten Teil11

Zurück in der Wetterau (11)

Bürgermeister Michael Keller nannte unlängst das Kasernengelände im Süden der Stadt einen „unerhörten Glücksfall“ für Friedberg, da neues Bauland langsam rar wird. Das nach dem Abzug der Amerikaner entstandene Areal verlassener Kasernen und Wohngebiete erstreckt sich von der Karlsbaderstraße auf Höhe des Dachspfades bis and Ende der Ray Barracks. Es ist heute ein trostloses Niemandsland, doch das war nicht immer so: einst begleiteten uns die Amis auf Schritt und Tritt durch unsere gemütliche Kleinstadt.

Die ersten Amerikaner, an die ich mich erinnern kann, lagen in der Gebäckauslage „beim Theobald“, einem winzigen Einzelhandelsgeschäft an der Ecke Karlsbader - Breslauer Straße. Als Kinder begleiteten wir oft unsere Großmutter zum Einkauf dorthin und durften uns dann einen der kleinen runden Kuchen mit Zuckerguss auf der abgeflachten Unterseite mit nach Hause nehmen. Warum diese Stückchen „Amerikaner“ heißen, weiß ich bis heute nicht. Die jungen Männer in Uniform haben sie jedoch mit Sicherheit nicht eingeschleppt, denn sie existierten schon vor dem Krieg (sagt man so).

Exemplare aus Fleisch und Blut waren zwar, so lange ich denken kann, schon immer Teil des Friedberger Straßenbildes, doch dies waren eben nicht „Amerikaner“, sondern „Amis“. Der Groschen fiel erst später. Anfang der Sechziger sah ich im Vorbeifahren oft neidvoll auf die Schaukeln auf den Spielplätzen der living quarters der Ray Barracks: An langen Ketten hingen breite Leinentücher, auf denen bequem zwei Kinder Platz fanden. Unsere deutschen Schaukeln waren nicht so breit und die Sitzfläche bestand aus einem Holzbrett. Wie gern hätte ich die exotischen Schaukeln ausprobiert! The grass is always greener on the other side of the fence.

Auch sonst war man sich auf Schritt und Tritt der amerikanischen Präsenz bewußt: Wunderschöne gas guzzlers fuhren gemächlich die Kaiserstraße hinauf und hinunter, mit fins und einer breiten, nicht unterteilten Rückbank. Damals hatten die Autos noch Persönlichkeit: sie waren nicht streamlined und kein Mensch scherte sich darum, ob sie im Windtunnel eine gute Figur machten. Sie waren einfach „elend cool“.

Auch die sportlichen Aktivitäten der GIs brachten einen Hauch von Exotik in die Kleinstadt. An der Ecke Königsberger Straße - Im Wingert, fanden regelmäßg Baseballspiele statt. Die jungen Männer auf dem Feld strotzten nur so vor Selbstbewußtsein und kauten gelangweilt auf ihren Wrigley’s Spearmint herum, während sich der pitcher alle Zeit der Welt nahm, um den Ball gezielt zu platzieren. Die Familien der Spieler hatten sich auf einer kleinen Holztribüne versammelt und feuerten, wenn sie nicht gerade den Mund voll hatten, ihr Team enthusiastisch an. Für das Leibliche war wohl gesorgt: ein BBQ und reichlich Bier am Strassenrand lieferten stetigen Nachschub. Nach und nach begriff ich, warum und wann wer warf, fing und losrannte und so beschloss ich, eines Tages auch einmal so cool unter jubelnden Fans einen homerun hinzulegen. Doch es sollte nicht sein, denn keiner meiner Freunde zeigte auch nur das geringste Interesse an meinem neuen Lieblingssport. Später, als ich als Teenager durch Kalifornien trampte, kaufte ich mir meinen ersten baseball glove. Er liegt noch immer in einer Ecke meines Wohnzimmers und wartet darauf, wieder einmal einen Ball zu fangen.

Zur Weihnachtszeit starrten wir im Vorbeifahren auf die hell erleuchteten, mit bunten Lichterketten verzierten Fenster der living quarters. Um „wandernde“ Lämpchen herum erstrahlten die Fassaden und die glitzernden, bonbonfarbenen Father Christmas mitsamt Rudolph und Rentieren. Heute würde mir dazu nur ein Adjektiv einfallen, aber damals verzauberte mich der Anblick dieses verschwenderischen Weihnachtsschmucks.

Dass dieser Straßenzug nur für die Wagen der amerikanischen Anlieger zugelassen war, bekam ich erst viele Jahre später mit, als ich während meiner praktischen Prüfung bemerkte, wie mein Fahrlehrer begann, nervös an seinen Knöpfen herumzuspielen (Sicherheitsgurte gab es damals noch nicht). Wir passierten den Baseballplatz und ich rauschte am Tor zu den Ray Barracks vorbei. Nun wurde auch der Prüfer etwas blass um die Nase: „Dürfen wir denn hier hinein fahren?“ Ich nickte bedächtig und beruhigte ihn: „Aber ja, hier fahren wir schon, so lange ich denken kann!“

Nun, die praktische Prüfung bestand ich dann ein paar Wochen später im zweiten Anlauf.

Eines Tages fand ich im Küchenschrank meiner Großmutter Kochtöpfe, auf deren Innenseite „1-2-3- cups“ stand. Ja, das sei ein Überbleibsel der Amerikaner, die bei ihnen zur Untermiete in der Danziger Straße gewohnt hatten, erklärte sie. Ein junges Paar, sie hießen Byron und Janice. Da meine Oma kein Englisch sprach, entging ihr der ein oder andere Hinweis ihrer Untermieter auf das bevorstehende Wochenende: „Mummy, we’re going to give a party and you don’t know it!“ Die beiden blieben über ein Jahr bei meinen Großeltern und brachten ihre Tochter dort zur Welt. Leider brach der Kontakt in späteren Jahren ab.

Die Kinder, die aus der Ehe Schwarzer und Weißer hervorgingen, waren ein ungewohntes Bild für die hiesig Ansässigen. Man nannte sie damals „Mulatten“ und ich erinnere mich noch genau, wie meine Mutter beim Anblick dieser Kinder immer in Entzücken geriet, weil sie so hübsch aussahen. Ihre Generation hat ausnahmslos positive Erinnerungen an die Amerikaner: Als Schülerin der Schillerschule wurde sie mit der ganzen Klasse in die Kaserne eingeladen, wo die Amerikaner ihnen hot chocolate mit doughnuts servierten und ein Päckchen mit Überraschungen schenkten – ein treat in der sonst eher nüchternen Nachkriegszeit.

Meine persönlichen Erinnerungen an die GIs sind ebenfalls ungetrübt: Als Kinder zogen wir oft unsere Schlitten den langen Weg zum Winterstein hinauf, um dann in einem Affenzahn die lange Straße herunter bis zur Autobahnbrücke in Ockstadt zu rodeln. Glücklicherweise hielten die Truppenwagen der Amerikaner immer an, wenn wir winkten und holten uns mitsamt unseren Schlitten auf die Ladefläche hinauf. Die Kommunikation war aufgrund unserer sehr bescheidenen Englischkenntnisse auf „Hello“, „Thank you“ und „Bye Bye!“ begrenzt, doch wir fühlten uns auf den halb-offenen Truppenwagen immer wohl. Die GIs spendierten uns Wrigley’s Spearmint Gum und hoben uns dann, am Manövergelände angekommen, mitsamt unsere Schlitten wohlbehalten in den Schnee hinunter.

Auch während meiner Teenagerzeit war ich den amerikanischen Jünglingen zugetan, da sie weitaus attraktiver und lustiger waren als die einheimischen Exemplare. Im Contact Club trafen sich jeden Dienstag Abend im „Hotel zur Post“ Amerikaner und Deutsche zur feucht-fröhlichen Diskussionsrunde. Meist erschienen etwas ältere Semester, die uns von ihrem Einsatz im Vietnam-Krieg erzählten. Das war zwar interessant, doch es hielt mich dort nicht sehr lange: das Alternativprogramm in der Kaserne stellte eine ernst zu nehmende Konkurrenz dar. Eines Tages wurde ich zu einer „50s Party“ eingeladen und erschien am fraglichen Abend – mehr oder weniger adäquat gekleidet – vor dem Kasernentor. Auch wenn wir damals in den Ray Barracks ein- und ausgingen, kam man zur bowling alley oder zum Capri Club jedoch nur in Begleitung eines GIs. Und so holte mich Stan am Haupttor ab, an dem eine uniformierte Wache gewissenhaft Personen und Wagen kontrollierte.


                                                        Ray Barracks, Main Gate, 1963

Die Party war gut besucht und ich unterhielt mich mit Tom aus Orange, Texas, den ich auch aus dem „Sanssoucis“ kannte. Wenn ein GI gern ein Gespräch mit einem Gast unterbrechen wollte, ging das damals sehr unkompliziert vonstatten. Die Choreographie war wohl einstudiert: Zwei GIs nahmen Tom an Schultern und Armen hoch, schleiften ihn rückwärts über den Stuhl, und setzten ihn am Nebentisch wieder auf die Beine. Das alles geschah im Bruchteil einer Sekunde, ebenso wie das Herumwirbeln des Stuhls, auf den sich nun ein mir unbekannter junger Mann niederließ, mit den Worten: „Hi. I’m T.J. What’s up?“

T. J. (Thad Johnson war sein Name, doch er war nur unter seinen Initialen bekannt) lehrte mich später im alten Jugendzentrum in der Haagstrasse das Schachspielen. Viele andere werde ich auch nie vergessen. Da war zum Beispiel Wayne, der mir die Geschichte vom Wizard of Oz auf einem Waldspaziergang erzählte – später schickte er mir das Buch nach Paris, wo ich meine au-pair Zeit verbrachte.

Und so wurde mein Verhältnis zu „unseren Amis“ auch durch die Propaganda meines Schulfreundes Stefan nicht getrübt, der versuchte, allen klar zu machen, dass unsere amerikanischen Freunde „Besatzer“ seien. Ich nahm das ganze nicht so ernst, da er zu dieser Zeit als Berufswunsch „Knecht“ angab und im Korea-Nahkampf-Schnitt während der Deutschstunde die „Internationale“ in seinen Tisch im Fahrradkeller des ehemaligen E1 einritzte, in dem wir während der 10. Klasse unterrichtet wurden. (Ich selbst war natürlich eine Musterschülerin, aber aufgrund des Benehmens meiner Mitschüler wurde unsere Klasse für ein Jahr in den ehemaligen Fahrradkeller der Schule verbannt.)

Mit den Jahren verschob sich mein Interesse zu Gunsten aufregenderer Schauplätze. Zwar besuchte ich später einmal das Deutsch-Amerikanische Freundschaftsfest, doch es war eher öde, eine ganz normale Kirmes mit Berg-und-Talbahn und die Verpflegung lief unter acquired taste. Das Rodeo auf dem runway des ehemaligen Flugplatzes zwischen Friedberg und Ockstadt war mein letzter Kontakt mit den hier stationierten Amerikanern. Und den Wettbewerb um die Elvis Presley Bowl verfolgte ich nur noch über die Medien. Ja – der Preis war tatsächlich die Kloschüssel, auf der sich (unter anderen) auch Elvis erleichterte.



Noch heute habe ich ein Andenken an die topsy-turvy Ami-Zeit: Mein Stahlhelm mit inlay, den ich jedoch selten mehr als mein paar Minuten auf dem Kopf behalten kann …


Früher hatte man halt stärkere Nackenmuskeln.

Susie Vrobel, Januar 2011

Mittwoch, 7. Dezember 2011

Wetterauer Geschichten Teil10

Zurück in der Wetterau (10)

Es weihnachtet in Bad Nauheim und die Menschheit wird großzügig. Neuerdings bekomme ich beim allwöchentlichen Einkauf meines Kaffees bei Tschibo eine bunte Sondermarke dazu „gratis“. Kostenlos sei sie, erklärte mir die freundliche Dame hinter dem Tresen: im Kaffeepreis enthalten. Und es sei für einen guten Zweck: 45 Cent fließen direkt in das Mount Kenya Project. So einfach ist es, eine gute Tat zu verbuchen (die ich als alte Pfadfinderin natürlich täglich verrichte). Ich lasse mich nicht lumpen und horte nun bunte Umschläge mit 55 Cent Marken.

Anfang der Siebziger waren gute Taten etwas aufwändiger, denn man musste meist mit vollem körperlichen Einsatz den Weihnachtsbasar unterstützen. Damals flossen unsere Einnahmen allerdings nicht mehr an Biafrakinder, sondern, unter anderem, in die Vereinskasse des VCP, die so unsere Sommerlager subventionierte. In wochenlangen Bastelorgien zur Adventszeit entstanden so mehr oder weniger nützliche Dinge, die wir alljährlich zur Weihnachtszeit an unserem VCP Stand vor der Schillerlinde für einen guten Zweck unter die Menschheit brachten.

Und da die Wetterauer ein spendierfreudiges Volk sind, schmückten unsere Werke nun bald die Wohn- und Schlafzimmer der Region. Und wenn sie noch nicht entsorgt sind, so leben sie heute noch. Schauen Sie mal in ihrem Keller nach, vielleicht finden Sie dort das ein oder andere Ergebnis unserer Bastelwut: Strohsterne, ein verfärbetes Batik-T-Shirt oder eine Kordellampe?

Kordellampen waren Anfang der Siebziger die Wetterauer Antwort auf Akari-Leuchten. Ein schlichtes Lampenmodell, das man leicht in Heimarbeit mit einem Wasserball, einer Kordel und etwas Kleister herstellen konnte. Man blies den Wasserball auf und begann, die Kordel so lange kreuz und quer um den Ball zu wickeln, bis er beinahe nicht mehr zu sehen war. Dann pinselte man Kleister darüber und ließ das Ganze trocknen. Nach ein paar Tagen ließ man dann die Luft aus dem Ball, zog ihn vorsichtig an einem Ende heraus und entfernte den überschüssigen Kleister.

Leider entpuppten sich einige Modelle als nicht wärmeresistent, und so geschah es, dass sich das Schmuckstück oft in Wohlgefallen auflöste. Die ersten Kordelstücke, die die Schwerkraft unbarmherzig in Richtung Teppich zog, versuchte man noch – mehr oder weniger erfolgreich –  wieder anzukleben. Doch es kam der Zeitpunkt, an dem man entnervt die Überreste in einem Karton verstaute und in den hintersten Winkel des Kellers verbannte (wegwerfen ging nicht, denn es war ja selbstgebastelt).

Auch die T-Shirts, die wir zunächst liebevoll mit Wachs beträufelten, zusammenschnürten und dann in Eimer mit gelösten Farben tauchten, erwiesen sich als nicht ganz pflegeleicht. So nahm oft der gesamte Inhalt einer Waschmaschine die Regenbogenfarben unserer Batikkreationen an. Da half meist auch kein Entfärber mehr und das Ergebnis trug nicht gerade zur Weihnachtsstimmung bei.

Doch die kam vor dem Weihnachtsbaum schnell wieder auf, wenn das alljährliche Entwirren des Kabels der Lichterkette anstand. Zu diesem Zeitpunkt war das Gröbste bereits überstanden, denn der Baum stand nun endlich fachmännisch fixiert in einer Ecke des Wohnzimmers.

Der selbst gefällte Baum. Jedes Jahr fuhren wir mehr oder weniger direkt in den Wald (die Karten halfen nicht wirklich zur Orientierung) um den schönsten Weihnachtsbaum auszusuchen, zu fällen, und dann auf dem Autodach nach Hause zu transportieren. Kleinere Hindernisse bewältigten wir mit Bravour und wenn wir auch oft vollkommen verdreckt unser Ziel erreichten (die Reifen drehten meist durch, wenn wir den festgefahrenen Wagen aus dem Schlamm befreiten), schritten wir, einmal angekommen, würdevoll am Förster vorbei in die Tiefen des Taunus.

Nach vollendetem Werk bezahlten wir den Baum und zurrten ihn am Dachgepäckträger fest. Das lief nicht immer ganz glatt, denn ich erinnere mich noch genau an den Abend, and dem ich innerlich schon damit abgeschlossen hatte, Weihnachten wohl im Auto verbringen zu müssen. Einer der Insassen fixierte den Baum auf dem Autodach, indem er die Fenster öffnete, die Spanngurte hinduch und fest zog, so dass die Klemmschnalle sich weiter und weiter Richtung Autodach schob. Es war Zeit, loszufahren. Doch leider war der Autoschlüssel im Mantel meines Vaters, und der war sicher im Kofferraum verstaut. Raus konnten wir nicht mehr, denn die Klemmschnalle war nun unerreichbar irgendwo auf dem Autodach. Es wurde langsam dunkel und ich begann, laut um Hilfe zu rufen. Nach einigen gefühlten Ewigkeiten erschien unser Retter: ein Förster, der kopfschüttelnd den Kofferraum öffnete und uns den Mantel durchs Fenster reichte. Wir bedankten uns recht herzlich und fuhren nach Hause. Aussteigen konnten wir dort leider immer noch nicht, aber einige besorgte Nachbarn befreiten uns bald aus unserer misslichen Lage.

Nun mochte man schon triumphieren: „Wir sind noch mal davon gekommen“, aber ganz so einfach war Weihnachten nicht. Denn nun musste der Baum aufgestellt werden. Ein stabiler Christbaumhalter galt damals als kitschig und verpönt, und so stellten wir den Stamm in eine Dose mit Wasser. Der Baum stieß zwar an die Zimmerdecke und war so halbwegs stabil, doch es bedurfte noch einiger Nylonfäden, um ihn sturzsicher zu machen. Dann wurde er von allen begutachtet: „Sehr schön …“. Doch schon nach kurzer Zeit kam meine Mutter meist zu dem Entschluss, dass der Baum schief stand. Also schob sich mein Vater, flach auf dem Teppich, in Richtung Stamm und Dose, um jene zurecht zu rücken um dem ästhetischen Urteil meiner Mutter zu genügen. Auch wenn mir die Bilder noch klar vor Augen sind, weiß nicht mehr, wie oft es passierte … aber ich erinnere mich an Weihnachten, an denen wir meinen Vater drei Mal unter dem umgestürzten Baum hervorziehen mussten. Es wurde nie langweilig im Ulmenweg.

So bin ich froh, nicht mit ereignislosen Weihnachten aufgewachsen zu sein – bei uns war immer etwas los.

So schön wird Weihnachten nie wieder …

Susie Vrobel, Dezember 2011



Donnerstag, 17. November 2011

Wetterauer Geschichten Teil9

Zurück in der Wetterau (9)

Es ist Herbst in Bad Nauheim und die ein oder andere Nasenspülung mit Salz hilft über die ersten Erkältungen hinweg. Doch die Spülungen wecken auch Erinnerungen ganz anderer Art und lassen mich längst verdrängte Momente meiner Jugend noch einmal durchleben: Kaltes Wasser dringt in die Nase und Nebenhöhlen ein, Luftholen ist nur noch durch den Mund möglich, aber wenn auch der sich unter Wasser befindet, setzt ein Gefühl von Panik ein. Wann wurden diese neuralen Netze generiert, die durch einen einzigen Stimulus solch lebhafte Erinnerungen hervorrufen?

Anfang der Siebziger fand unser wöchentlicher Schwimmunterricht im alten Friedberger Hallenbad in der Haagstrasse statt. Wir drängelten uns links am Kartenschalter vorbei in die Umkleidekabinen, während unser Schwimmlehrer seinen Friedrich Willhelm in eine Liste eintrug. Das Umziehen dauerte knapp drei Minuten, und schon zwängten wir uns durch den schmalen Eingang zum Beckenrand. Ab jetzt herrschten theoretisch neue Regeln: kein Schubsen und kein Rennen mehr, da man leicht ausrutschen und auf die harten Fliesen fallen konnte. Die Praxis sah natürlich anders aus.

Der erste Schock stand gleich zu Beginn der Schwimmstunde an: die eiskalte Dusche an der Treppe des kleinen Nichtschwimmerbereichs. Ich erinnere mich noch gut an die schnatternden Gestalten, die sich nun in einer Reihe am tiefen Becken versammeln mussten: Sextaner in nassen Badehosen oder Bikinis, die fortwährend an den handelsüblichen, nie richtig sitzen wollenden Noppenschwimmhauben zerrten, and denen beim Ausziehen immer ein paar Haarbüschel hängenblieben.

Dann begann die Tortur: Unser Schwimmlehrer warf einen kleinen, massiven Gummiring ins Wasser, den niemand wirklich wieder herausholen wollte. Doch es gab kein Entrinnen. Und so sprang ein Kind nach dem anderen – mehr oder weniger graziös – in das kalte Wasser, um den Vollgummiring zu retten. Es war wirklich sehr tief – besonders, wenn man erst elf war – und das im Wasser gelöste Chlor brannte in den Augen. Nach einer Viertelstunde sahen wir alle aus, als hätten wir eine Nacht durchzecht.

Danach bildeten wir die zweite Schlange – diesmal ein paar Meter weiter rechts, vor dem Ein-Meter Brett. Hier trennte sich nun die Spreu vom Weizen: Zwei bis drei Feiglinge genügten, um den Rest der Klasse, in der Schlange vor Kälte schnatternd, von friedlichen Kindern in aggressive Bullies zu verwandeln (das Wort Bullies gab es damals noch nicht – es waren Rabauken oder Fieslinge: „Spring schon!“, „Feigling!“, „Muttersöhnchen!“, „Memme!“ ). Nach einigen gefühlten Ewigkeiten ging es dann endlich weiter, wenn die Memmen auf allen Vieren rückwärts auf dem Brett zurückkrochen und sich wieder hinten anstellten.

Danach schwammen wir „Bahnen“ und irgendwie erhielten alle am Ende des Schuljahres das Freischwimmer-Abzeichen, das fortan unsere Badehosen kürte. Doch bis dahin war es ein harter Weg. Woche für Woche erfüllten wir unser Soll. Die schöne Jugendstilarchitektur des Bauwerkes ging uns damals an der Badehose vorbei.

Erschöpft und mit nassen Haaren schleppten wir uns mit letzter Kraft zur Pommesbude in der Bismarckstrasse. Für sechzig Pfennig gab es dort eine Tüte Pommes rot-weiß, die nach der allwöchentlichen Tortur unsere wackligen Knie wieder standfest machte.

Kauend schlenderten wir auf der Ludwigstrasse in Richtung Augustinerschule, vorbei am Pali-Kino, ein uns damals riesig erscheinendes Gebäude, in dem Generationen von Schulkindern die Fauna jenseits der Wetterau kennen lernten. Gebannt starrten wir auf die Leinwand, wenn das Schicksal Namus, des Raubwals schon fast besiegelt schien. Bei manchen Filmen flossen ein paar Tränen, die jedoch schnell wieder weggewischt wurden, da man solche Schwächen lieber vor seinen Mitschülern verbarg. Doch als die Löwin Elsa am Ende wieder in den Weiten der Savanne verschwand, blieb kein Auge trocken. Und so hörte man die Titelmelodie von Born Free noch Tage nach dem gemeinsamen Kinobesuch im Schulbus und in der Schlange vor dem Hausmeisterkiosk.

Die Badekappen mit Noppen wurden Anfang der Siebziger dem flower power image angepasst und mit klebrigen Plastikblumen verziert, in denen sich nun noch mehr Haare verfingen. So ist das mit dem Fortschritt.

Wenn eines Tages, in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft, das alte Hallenbad in ungekannt trocknem Ambiente als Theater seine Türen wieder öffnet, werde ich mich wohl im Kreise einiger Besucher meiner Generation wehmütig der guten alten Zeit erinnern und in mehr oder weniger geistreichen Resumées Bilanz ziehen:

„Damals war es nasser.“

Susie Vrobel, November 2011



Sonntag, 30. Oktober 2011

Wetterauer Geschichten Teil8

Zurück in der Wetterau (8)

Ich habe mir beim Eisenreich auf der Kaiserstrasse ein Paar gelbe Chucks gekauft. Ein Einschnitt in meinem Leben, denn bisher trug ich dunkelblau – oder navy-blue, wie es heutzutage heißt. In meinem Schrank türmen sich über ein halbes Dutzend abgelaufener Schuhe jener Marke. Wegwerfen kann man sie nicht, da – wie jeder weiß – die von Sonne und Waschmaschine gebleichten Chucks mit eingerissener Gummisohle mit zunehmendem Alter immer wertvoller werden.

Früher gingen Schuhe nicht kaputt, da sie vor dem Zerfall bereits anfingen, zu drücken. Das war jedoch nicht weiter schlimm, denn in den Sechzigern waren Turnschuhe noch so erschwinglich, dass man die schnell wachsenden Füße sofort in ein neues Paar der gleichen Marke stecken konnte. Die Qual der Wahl kannten wir nicht, denn es gab nur eine Sorte:

In den 60er Jahren trugen alle Kinder die gleichen dunkelblauen Segeltuchschuhe mit der weißen Gummisohle. Keiner von uns hätte den Markennamen nennen können, es waren ganz einfach „Turnschuhe“. So sahen wir im Sportunterricht denn auch alle gleich aus: schwarze ärmellose Turnhemden, eine kurze Turnhose aus Baumwolle und dazu – das einzige Turnschuhmodell der Sechziger Jahre. Dies erklärte auch die Notwendigkeit, Namensschildchen in die Sportbekleidung einzunähen, denn vergaß man sein Turnhemd oder die Schuhe in der Umkleide, wären sie sonst im Fundus des Hausmeisters kaum zu identifizieren gewesen.

Turnschuhe waren definitiv keine Strassenschuhe: sie waren uncool und rochen nicht besonders gut. Und sollte trotz allem ein Kind in blauen Segeltuchschuhen auf der Strasse gesehen werden, war die Diagnose schnell gestellt: „Haha – dem haben sie die Schuhe in der Umkleide geklaut!“ Und so weinte keiner dem alten Paar eine Träne nach, wenn es denn begann, zu drücken.
Dies änderte sich erst Anfang der Siebziger, als wir bemerkten, dass man ganz wunderbar mit einem Kugelschreiber auf ausgebleichtes Segeltuch schreiben und malen konnte. Fast so gut wie auf verwaschene Jeans. Den nun folgenden Bekritzelungs- und Bemalungsorgien, in denen wir unsere tiefsinnigen Weltanschaungen, kunstvolle Kopien der Led Zepplin Alben und die Namen unserer Lieblings-Popstars auf Schuhen und Hosen verewigt hatten (auf den dunkelgrünen Parkas waren sie weniger gut lesbar), folgte nach einigen Wochen die Ernüchterung. Was tun, wenn die Lieblingsband plötzlich eine peinliche, grottenschlechte LP herausbrachte? Wegätzen ging nicht – dann hätte man ja ein Loch im mühsam verschönerten Leinenstoff. Gut, dass Tattoos damals noch nicht „in“ waren. Sonst gliche die Epidermis meiner Generation heute der Niki Laudas. Manch einer griff zu Domestos, doch die so entstandenen weißen Stellen wurden schnell spröde und rissen bei der nächsten Wäsche ein. Letztere konnte man in den 70ern getrost auf den nächsten Monat verschieben – dreckige Jeans waren überaus cool und fielen auch nicht weiter auf – doch irgendwann mußte man sich dem Zahn der Zeit stellen. Ganz arm dran waren die Mitschüler, die sich voreilig „Bay City Rollers“ mitsamt Schottenmuster auf die Schuhe gemalt hatten. Entweder versanken sie nach ein paar Wochen vor Scham in den Boden oder liefen den Rest des Schuljahres nur noch in Sandalen herum.


Mitte der Siebziger tauchten in Friedberg die knöchelhohen Versionen der Kultschuhe auf. Ich erinnere mich noch genau an mein erstes Exemplar – blau mit weißen Sternen – das ich bestimmt bis zum Abitur getragen hätte, hätte sich da nicht der Zwischenfall im Schullandheim auf der Seiser Alm ereignet. Nachdem wir unsere Ankunft ausgiebig gefeiert hatten, fielen wir todmüde in unsere Etagenbetten. Meine Freundin B., die es sich gerade im Bett über mir bequem gemacht hatte, unterrichtete alle fünf Zimmergenossinen prompt und detailliert über ihr Befinden („Mir ist so schlecht, ich glaube ….“). Die Ankündigung kam jedoch zu spät, denn im nächsten Moment sah ich ihren Mageninhalt im freien Fall an mir vorbei in meinen geliebten Turnschuhen landen. Da kam jede Hilfe zu spät: ich entsorgte die randvollen Chucks im Müllcontainer hinter der Hessenhütte und trug für den Rest der Klassenfahrt meine tonnenschweren Bergsteigerschuhe. Das gab kräftige Wadenmuskeln. Danke, B.!



Heute, so lese ich neuerdings, sind die sympathischen Segeltuchschuhe mit der weißen Gummisohle das understatement schlechthin. Ein understatement kostet übrigens schlappe 69 Euro. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, aber es wird immer teurer.

Susie Vrobel, Oktober 2011