Sonntag, 12. Februar 2012

Wetterauer Geschichten Teil12

Zurück in der Wetterau (12)

Ganz Gallien? Nein. Nur die kleine Ortschaft Bugarach ist besetzt – von Esoterikern aus aller Welt, die in dem idyllischen Örtchen ausharren, um dem Weltuntergang entgegen zu fiebern. Denn, wie jeder weiß, wird dieser kurz vor Weihnachten eintreten. Genauer gesagt, am 21. 12. 2012, denn – so sagt man – endet just an diesem Tag der Maya-Kalender. Nein, ich habe nicht mein Zelt in Bugarach aufgeschlagen, sondern sitze noch immer gemütlich in meinem Appartment in Bad Nauheim, da mit fortgeschrittenem Alter mein Sättigungsgrad an Weltuntergängen erreicht ist.

Das war natürlich nicht immer so. Und es tut mir auch etwas Leid, dass ich heute so abgestumpft auf die Ankündigung solch kosmischer Ereignisse reagiere. Denn obgleich wir zwischen Spott und Panik oszillierten, wenn uns ein Blick auf die im Schulbus verrottende Bild-Zeitung mal wieder das Armageddon verkündete, hatten diese Bedrohungen auch ihr Gutes. Man wurde aus dem Alltagstrott herausgerissen und beschäftigte sich plötzlich mit tiefen Sinnfagen: Lohnt es sich noch, für die Mathearbeit zu lernen? Wozu Vokabeln büffeln, wenn der Komet die Erde noch vor Fasching in tausend Stücke reißen wird?

Doch auch wenn man solche Schlagzeilen souverän ignorieren konnte, schwebte damals immer ein ganz reales Damokles-Schwert über uns. Es war die Zeit des Kalten Krieges und wir befanden uns auf dem potentiellen Schlachtfeld der Supermächte. Schon früh wurde diese Bedrohung pädagogisch ausgeschlachtet. Im Religionsunterricht an der Philipp-Dieffenbach Grundschule wurde unsere Lehrerin damals in den Sechzigern nicht müde, uns immer wieder klar zu machen, dass wir uns gut benehmen müssen, da ja das Jüngste Gericht theoretisch jederzeit anstehen könnte. Denn, so fuhr sie fort, könnte ja jederzeit und ohne Warnung eine Atombombe auf uns abgeworfen werden. Zu Hause fragten wir dann nach: Ja, theoretisch schon, aber wir sollten uns mal keine Sorgen machen. Das hatte den gleichen Effekt, als wenn man uns sagte, wir sollten nicht an einen blauen Elefanten denken, wenn wir an der Ampel stehen. Und so wuchsen wir mit der Gewissheit auf, dass es sich auf jeden Fall lohnt, jeden Tag zu genießen. Im Teenageralter wurde daraus unser Lebensmotto: Carpe Diem.

In der Grundschulzeit kam für alle Schüler irgendwann der Tag, an dem man nachmittags zum Kommunions- oder Konfirmationsunterricht geladen wurde. Da ich katholisch war, bereitete uns Pfarrer Heininger auf den großen Tag vor. Er war sehr freundlich und redete uns immer mir „Kinderlein“ an, was zwar etwas nervte, aber längst nicht so schlimm war wie die Tatsache, dass man nie wusste, wen er gerade anschaute. Das lag natürlich daran, dass der arme Mann ein Glasauge hatte. Jede seiner Fragen wurde mit einem Chor von Kinderstimmen erwidert: „Ich?“, „Meinen Sie mich?“, „Anni, er guckt dich an!“.

Wir fertigten aus Buntpapier kleine Bilder an, in denen das Jesuskind, umringt von Maria, Josef, den Heiligen drei Königen und allerlei Getier auszumachen war. Die gelungeneren Werke wurden aufgehängt. Einige der Kinder hatten wohl ein wenig gezündelt, denn das Jesuskind meines Klassenkameradens Robert war leicht geschrumpft und and den Rändern angeschmort. Es wurde daraufhin von den anderen Kindern als „verbruzzelt“ verhöhnt und nicht aufgehängt. Nicht einmal im Kommunionsunterricht ging es gerecht zu.

Und so näherte sich der Tag, an dem wir unsere mühsam einstudierten Schritte in der Heilig-Geist Kirche zum ersten Mal vor Publikum absolvieren sollten. Der Tag kam, und wir wurden herausgeputzt wie die Pfingstochsen. Meine schöne bequeme Alltagskluft musste einem weißen Kleid, weißen Stumpfhosen und weißen Schuhen weichen. Auch mein Bruder konnte sich in seinem dunklen Anzug mit Hemd und Fliege nicht so richtig entspannen. Dazu bekamen wir lange weiße Kerzen mit einem weißen Fummel am unteren Ende, der wohl die Hände vor heruntertropfendem Wachs schützen sollte. Vor der Kirche angekommen, sahen wir mit Genugtuung, dass es den anderen Kindern ähnlich ergangen war. Alle zupften und zerrten an der ungewohnten Kleidung während sich der Zug in Zweierreihen nun unter Pfarrer Heiningers Anleitung in die Kirche und dann langsam in Richtung Altar vorschub. Die Choreographie war zwar seit Monaten einstudiert – an gewissen Stellen musste man im Schritt verharren, dann wieder drei Schritte weitergehen und beim Einsetzen der Musik wieder stehen bleiben. Natürlich konnte sich keines der Kinder an die Schrittfolge erinnern, da wir im Kommunionsunterricht die meiste Zeit damit verbracht hatten, auf Pfarrer Heiningers Glasauge zu starren. Und so erinnerte die Kinderschlange, der sich von einer Karrambolage in die andere langsam vorwärts schob, eher an Colonel Hathis Frühpatroullie als einem frommen Kommunionszug.

Irgendwie kamen wir alle heil wieder aus der Kirche heraus und begannen, endlich zu Hause angekommen, sofort uns unsere Festtagskleidung vom Körper zu reißen. Verfrüht jedoch, wie sich sofort herausstellte. Denn zuerst stand noch der Fototermin an. Inzwischen hatten mein Bruder und ich bereits die Kerzen in Schwerter verwandelt, uns selbst in Errol Flynn und Zorro, und forderten uns mit einem klassischen „En garde!“zum Kampf heraus. Leider waren die Kerzen nicht kampftauglich, doch wir meisterten die Schadensbegrenzung, indem wir die Einzelteile geschickt übereinander balancierten, während wir mit unschuldiger Miene für die Kamera posierten.


Ja, eigentlich fing dieser Post mit dem bevorstehenden Weltuntergang an. Wie auch immer dieser einmal aussehen wird – ob wir Außerirdischen oder dem Jüngsten Gericht entgegen treten – ich glaube wir sind gut gerüstet. Ein Blick auf das Kommunionsphoto wird alle höheren Instanzen verträglich stimmen.

Susie Vrobel, Februar 2012