Samstag, 15. Juni 2013

Wetterauer Geschichten Teil 18

Zurück in der Wetterau (Teil 18)

Oft radele ich auf dem Weg nach Friedberg am neuen Jugendzentrum vorbei – ein freundlich anmutendes, modernes Gebäude mit vielerlei Sporteinrichtungen. Von innen kenne ich es nur aus Photos der Lokalpresse, denn als Üfü schaue ich dort besser nicht hinein, wenn ich den Kommentaren („Mein Gott – jetzt kommen sie schon zum Sterben hierher!“) entgehen möchte.

Kaum zu glauben, aber auch meine Generation hatte einen solchen Treffpunkt. Für mache war es wohl auch eine zweite Heimat. Mitte der Siebziger verbrachten wir unsere Freistunden und Nachmittage oft im alten Juz in der Bismarckstrasse 24 – genau 2 ½ Minuten Fußweg vom Augustinergymnasium. Das Gebäude war mehr als sanierungsbedürftig, aber das störte niemanden. So manche Session fand davor statt, mit Loschi an den Bongos oder Kongas, Moses an der Gitarre und uns anderen singend oder ebenfalls Gitarren schrubbend.

Betrat man das Gebäude, ging man ein an ein paar Postern vorbei, drei Treppenstufen hinab, in das Café (oder sollte ich lieber „Kneipe“ sagen?). Die Theke befand sich rechts, die Tische und Bänke links. Die Holzverkleidungen der Nischen waren selbst zurechtgezimmert und so zog man sich beim Hineingleiten den ein oder anderen Schliffer zu. Doch die waren schnell vergessen, fanden doch um die Holztische existenzielle Diskussionen statt. Wie stehen wir zum Paragraph 218? Oder – etwas später – zu den Notstandsgesetzen? Ermüdet fanden wir jedoch bald zu Schach und Doppelkopf zurück. Bis irgendjemand laut verkündete: „Die 4. Stunde fängt gleich an!“ Hier trennten sich nun zwei Welten: Diejenigen, die zurück zum Unterricht rannten, und dem Rest, der darauf hoffte, dass die Abwesenheit nicht bemerkt würde.

An freien Nachmittagen oder Abenden verdienten wir uns mit dem Thekendienst im Juz ein paar Mark dazu. Die Abrechnungen am Ende waren etwas nervenaufreibend, denn es dauerte oft einige gefühlte Ewigkeiten, die verkauften Kakaos und Biere mit Papier und Bleistift zusammenzurechnen. Aber dafür konnten wir die LPs auswählen und den Nachmittag nach unserem Musikgeschmack gestalten: Frank Zappa & The Mothers of Invention, Led Zeppelin, Jimi Hendrix und Janis Joplin.

Mit der Hygiene nahmen wir es nicht ganz so genau. Als Hugo der Käsekuchen auf den Boden glitt, kehrte er mit einem freundlichen „Hoppla!“ die Überreste zusammen und servierte sie einem verblüfften Gast mit den Worten: „Wir sind ja nicht im Hilton!“

Das Café war aber nur ein kleiner Teil des Juz. Weiter hinten – man lief durch einen dunklen Gang, vorbei am Siebdruckgerät und Toiletten  – befand sich ein großer Raum, in dem Konzerte, Vollversammlungen und Filmvorführungen stattfanden

Bei einem Musikwettbewerb ergatterte ich mit einigen Beatles-Nummern – Dank meiner Freunde im Publikum – den 2. Platz: Der Preis war ein Gitarrenständer für eine Elektrogitarre. Leider hatte ich keine, und meine Westerngitarre war viel zu breit und passte nicht hinein. Egal – es war ein Grund zum Feiern. Erster wurde die Gruppe Schtonk mit Obi am Schlagzeug. Eine tschechoslowakische Band hatte leider nicht so viele Fans im Publikum und musste sich mit der Bronze-Medaille zufrieden geben.

An die meisten Konzerte kann ich mich nicht mehr erinnern. Da gab es jedoch einen irischen Jüngling names Julian Dawson, der es mir sehr angetan hatte. Singen konnte er zwar auch schön („I’m a-going fishing …“), doch darüber hinaus sah er auch glänzend aus und trug die coolsten Sneakers weit und breit – ganz in weiß, so wie Art Garfunkel auf dem LP-Cover Bridge over Troubled Water.

Dicht gedrängt, teils auf Stühlen, teils auf dem Boden sahen wir uns die Kultfilme jener Zeit an (damals sah man sich Filme nicht an, sondern „zog sie sich rein“). Es war ein seltsam anmutendes Gemisch aus A Hard Day’s NightZur Sache, Schätzchen und natürlich dem niemals enden wollenden Concert for Bangladesh.

Wir waren selbstverwaltet, und so wurden in regelmäßigen Abständen Vollversammlungen abgehalten, in denen wir über das Budget und Verantwortlichkeiten stritten, das Burgfest planten und bauliche Veränderungen in Angriff nahmen. Die Sitzungen waren schier endlos, nicht zuletzt, da wir nun alle gelernt hatten, wie man einen Antrag zur Geschäftsordnung stellt (beide Hände hoch).

Peter Hase, der damalige Sozialarbeiter im Juz („Mein Name ist Hase – ich weiß von nichts“),  hatte es nicht immer leicht mit uns, aber er managte eine Schadensbegrenzung nach der anderen mit Bravour, auch wenn seine Nerven damals wohl sehr gelitten haben müssen.

Moses & Aaron hatten ein Fotolabor im Keller des Juz, wo sie unter anderem auch ein Geburtstagsgeschenk für mich anfertigten: Ein Portrait von mir und Paul McCartney (den ich damals anhimmelte). Leider stand der Beatle nicht für einen Fototermin zur Verfügung, und so musste Schlumpf für die Rohfassung herhalten (der Kopf wurde von Moses & Aaron fachmännisch ausgetauscht). Leider habe ich das Endprodukt nicht mehr – nur noch die Ergebnisse der Fotosession vor dem Juz. Mir hatte damals zwar keiner erklärt, wozu ich mich in Pose werfen sollte, aber ich spielte gerne mit.



(c) Moses & Aaron (in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts)

Damals waren wir halt gutgläubiger.

Susie Vrobel, Juni 2013




Donnerstag, 13. Juni 2013

Wetterauer Geschichten Teil 17

Zurück in der Wetterau (Teil 17)

Die blauen Flecken auf meinem Kinn und Arm erwecken das Interesse meiner Mitbürger. Nein, ich war nicht in eine Schlägerei verwickelt – die Balkontür kam mir durch einen unvorhergesehenen Luftzug jäh entgegen und erwischte mich kalt.

Anfang der Siebziger Jahre hätte mich kein Mensch gefragt, woher die Blessuren stammen, da wir damals alle so lädiert aussahen. Der Grund war ein neues Spielzeug, das in Windeseile alle Schüler des Augustinergymnasiums infizierte: Es hieß – onomatopoetisch – „Klack-Klack“ und bestand aus zwei harten Kunststoffkugeln, die durch eine Schnur verbunden waren. Man legte den Ring in der Mitte der Kordel über den Mittelfinger und ließ die Kugeln – zunächst langsam – aufeinander prallen, indem man die Hand rhythmisch auf und ab bewegte. Das Ganze wurde nach ein paar Sekunden so schnell, dass sich die Klack-Klack Kugeln auch in Kopfhöhe trafen (daher die blauen Flecken am Kinn) um daraufhin wieder herunterzuschnellen (um auf unsere ungeschützten Unterarme zu treffen). Auch wenn sich das Verklagen von Herstellern in den Siebziger Jahren noch nicht zum Volkssport etabliert hatte, verschwand das Spiel nach kurzer Zeit aus den Regalen, nachdem es an vielen Schulen verboten wurde. Das nützt aber nichts, da wir ja mittlerweile alle stolze Besitzer des neuen Gimmicks waren.




Als ein Nachbarsjunge beide Schneidezähne verlor, nickten viele Erwachsene bedeutungsvoll, hatten sie es doch schon immer gewusst: das Teufelszeug war an allem Schuld. Doch der besagte Junge – nennen wir ihn P. – wurde Opfer unseres Forscherdrangs. Wir entzündeten die Lunten einiger Feuerwerkskörper und warfen sie in einen Mülleimer, um zu sehen, wie laut es scheppern würde. Damals waren die Mülltonnen, samt Deckel, noch aus Stahl und nachdem eine Weile nichts passierte, beugte sich P. über den Eimer, um nachzusehen. Die Explosion erfolgte innerhalb eines Sekundenbruchteils und riss den Deckel hoch. Der Rest ist Zahnarztgeschichte.

Auch die großen Kosmos-Chemiekästen erfeuten sich außerordentlicher Beliebtheit in dieser Zeit. P. hatte eigentlich großes Glück, denn er konnte sich nach der heftigen Explosion in seinem Zimmer noch aus auf allen Vieren herausrobben. Seine beiden Wellensittiche jedoch – sie hießen Jakob und Sarah und waren mir wohlbekannt, da sie vor den Kosmos-Zeiten auch oft auf meinem Kopf landeten – wurden auf Grund der erstaunlichen Gasentwicklung jäh ins Vogel-Jenseits befördert.

Wo war ich? Ach ja: Der novelty effect der Klack-Klacks verblasste bald mit dem Erscheinen der neuen Foltergeräte aus den Yps-Heftchen, und so wanderten die Kugeln entweder für immer in den Keller oder wurden zeitnah von genervten Eltern entsorgt.

Of hört man, dass die Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts einen craze nach dem anderen hervorbrachten. Glauben Sie mir – die Siebziger Jahre standen den roaring twenties in nichts nach. Als Mitte der Siebziger die Yps-Heftchen auftauchten, befand sich in jeder Ausgabe mindestens ein Gimmick für angehende Spione und Abenteurer.

Die Fingerzerhackmaschine musste man selbst zusammen bauen – es war eine kleine Guillotine aus Plastik mit einer richtigen Klinge. Baute man diese nicht richtig herum ein, so endeten die Vorführungen in einem – wenn auch überschaubaren – Blutbad. Charles, ein etwa 10-jähriger Wölfling, hatte Glück, denn er wurde von uns Scouts umgehend fachmännisch verarztet. Zum Überlebenstraining rüstete uns Yps mit Lupen, Abhörgeräten und vielerlei nützlicher Dinge aus. Noch heute habe ich mein Überlebenspack für die Wüste, da ich ihn nie benutzt habe: ein Beutel Kabapulver, der in zwei übereinander gleitenden Plastiktaschen sandsturmsicher verpackt war. Zur Sicherheit sollte er unter dem T-Shirt an einer Schnur um den Hals getragen werden. Ich habe mich oft gefragt, woher ich in der Wüste denn die Milch nehmen sollte, um den Plantagentrank schmackhaft anzurühren. Aber das waren eher kleinliche Gedanken, die einen wahren Abenteurer nicht abschrecken sollten. Sollte ich eines Tages in der Wüste Gobi einer Ziegenherde begegnen, bin ich gerüstet.

Ich glaube, der Selektionseffekt derer, die alle unfallträchtigen Spielzeuge dieser Zeit überlebt haben, wird oft unterschätzt. Die knallorangenen Hüpfbälle, die Boomerangs und Frisbees konnten meiner Generation nichts mehr anhaben. Die Pfadfinderlosung dieser Zeit hieß: „Was uns nicht tötet, macht uns nur noch stärker“. Ich habe nie herausgefunden, wer diesen dämlichen Satz formuliert hat.

Damals gab es halt noch pädagogisch wertvolles Spielzeug.

Susie Vrobel, Juni 2013