Zurück in der Wetterau! (Teil
13)
Neulich sah ich einen älteren Herrn mit nur einem Skischuh
und ohne Stöcke in die Trinkkuranlage schlendern. Zunächst dachte ich mir nicht
viel dabei. Denn ein Großteil der hiesigen Bevölkerung läuft ja auch mit
Skistöcken ohne die zugehörigen Schuhe durch die Kuranlagen. Bei näherem
Hinsehen entpuppte sich die Unterschenkelausstattung jedoch als
Orthesenstiefel. Das Wort – ich habe es erst letzte Woche gelernt – kommt nur
schwer über die Lippen und ich schaue dem Kurgast neidvoll nach, der sich heute
nicht mehr den Qualen eines Gehgipses aussetzen muss.
Mein letzter Gehgips und auch der meiner Freunde sah in den
Siebzigern anders aus. Knöchelbrüche zog mal sich damals überall zu. Mein
Blutsbruder Kater knickte beim Fußballspielen auf dem Feld um, ich selbst –
weniger glorreich – im Roxy Kino während der Rocky Horror Picture Show. Damals bedeutete ein Knochenbruch sechs
Wochen drastischer Einschränkungen mit einem schweren Gipsbein. Den Gehgips
bekam man erst ein paar Wochen nach dem Unfall verpasst. Es war eigentlich
nicht mehr als ein Klotz, der unter der Ferse am Gips angebracht wurde. Das
erforderte viel Geduld – eine Tugend, für die weder ich noch mein Blutsbruder bekannt
waren.
Und so kam es auch, dass wir eines abends beschlossen, nicht
weiter auf ihren Gehgips zu warten und, als Geister verkleidet, die
Nachbarschaft in Angst und Schrecken zu versetzen. (Ja, „ihren“ ist schon
richtig – mein Blutsbruder war meine beste Freundin, aber da es damals keine „Blutsschwestern“
gab, als wir uns, nach unseren Vorbildern Winnetou und Old Shatterhand in die
Finger ritzten und das Ritual vollzogen, nannten wir uns fortan Blutsbrüder.)
Wie so oft schliefen wir in Sommernächten – als echte Pfadfinder – draußen im
Garten meiner Eltern in unseren Schlafsäcken. Sobald es dunkel wurde, streiften
wir uns zwei Bettücher über und schlichen mit schauderhaftem Geheule durch die
nachbarlichen Gärten. Der Erfolg war nicht gerade durchschlagend – einige Opfer
schlossen geräuschvoll die Fenster, andere blieben ungerührt vor dem Fernseher
sitzen. Die Nachbarin an der Ecke erkannte uns sofort, schmiss sich sofort ans
Telefon und petzte. Wir bekamen Hausarrest und mein Blutsbruder durfte erst mal
nicht mehr bei uns im Garten übernachten.
Aber die Gipsbeine hatten auch ihr Gutes. War man beliebt,
füllte sich bald jeder Quadratzentimeter mit Unterschriften und kleinen
Kunstwerken. Einen Gehgips konnte man früher besser bemalen, da kein Plastik im
Weg war. Und so war man trotz wiedergewonnener Freiheit ein wenig traurig, wenn
das Erinnerungsstück beim Abnehmen rücksichtslos zerschnitten wurde.
Auch andere Unpässlichkeiten wurden damals rabiat behandelt.
Bei Verstopfungsproblemen wurde ein Esslöffel Rhizinusöl gereicht, der ekelhaft
schmeckte und dessen Wirkung fast umgehend einsetzte. Alle, die jemals einen
Löffel dieses schwabbeligen Trans herunterwürgen mussten, wissen was ich meine.
Läuse hatten wir zwar selbst nicht, doch wenn alljährlich
ein Zirkuskind für ein paar Tage am Grundschulunterricht teilnahm, kratzte sich
bald die ganze Klasse unablässig am Kopf. Ich weiß nicht mehr, was man damals
in Friedberg gegen das Ungeziefer einsezte, doch ein paar Jahre später, im
Sommercamp der Pfadfinder an der Dordogne, wurden wir von Kopf bis Fuß mit
DDT-Pulver eingesprüht. Damals scherte man sich noch nicht um gesundheitliche
Bedenken hinsichtlich des Pulvers, und so sahen wir nach der
Ganzkörperbehandlung alle aus wie grauhaarige Zombies – das war ein
Erinnerungsfoto wert.
Doch zurück zur Medizin. Auch OPs waren damals
furchteinflößender – zumindest der Teil, den man noch mitbekam. Als mein Bruder
und ich in Nieder-Weisel von unseren Rachenmandeln Abschied nahmen, wurden wir
mit Chloroform betäubt: Ein Assistenzarzt – oder vielleicht war es auch der
arbeitslose Cousin des Chirurgen – saß auf einem Stuhl in der Ecke des OPs. Er
trug als einziger normale Strassenkleidung, alle anderen Erwachsenen waren in
weiße Kittel gekleidet. Ohne Vorwarnung wurde ich auf den Schoß des Cousins gesetzt
und im gleichen Augenblick hielt er meine Arme und Beine fest, nahm ein weißes,
in Chloroform getränktes Tuch, und presste es auf mein Gesicht. Es dauerte nur
ein paar Sekunden, und ich war weg, doch diese waren mit Panik erfüllt.
Manche Missgeschicke bedurften glücklicherweise keiner
Operation, wenn es auch zuerst so ausgesehen haben mochte. Mein damals schon
verantwortungsvoller Forscherdrang veranlasste mich früh, Experimente zunächst
an mir selbst durchzuführen. Ich erinnere mich noch genau, wie mein Vater alles
stehen und liegen ließ, mich ins Auto trug und wir in einem Affenzahn zu Dr.
Seitz fuhren. Ich hatte mir eine Murmel in die Nase geschoben und konnte daher
nicht mehr so frei atmen wie gewohnt. Vielleicht war ich auch schon etwas blau
angelaufen, denn ich durfte sogar vorne im Auto sitzen. Im Wartezimmer
angekommen, sahen mich alle besorgt an, und ließen uns bereitwillig vor. Doch
just in dem Augenblick, als ich hereingerufen wurde, klickte es und alle Blicke
folgten der Murmel, die nun lautlos, endlich befreit, über den Boden des
Wartezimmers rollte. Schwein gehabt.
Auf dem Weg zur Phillip-Dieffenbach-Schule überquerte ich
allmorgendlich eine Brücke mit Aluminiumgeländer (es existiert heute noch), die
über den winzigen Bach führte. An einem eisigen Wintermorgen war das Geländer
mit wunderschönen weißen Kristallen übersäht. Um zunächst herauszufinden, wie
kalt der Rauhreif war, testete ich die Oberfläche, indem ich kurz drüberleckte.
Es war wirklich sehr kurz, doch die wenigen Sekunden genügten, meine Zunge am
Geländer festfrieren zu lassen. Auch hier beschlich mich ein Moment der Panik,
obwohl ich mir dies nicht anmerken ließ, als meine Klassenkameraden an mir
vorbei zum Schulgebäude liefen. Ich versuchte den Anschein zu erwecken, dass
ich mich vor Vergnügen kaum losreißen konnte. Doch ich saß nicht nur fest, es
tat auch höllisch weh – ich zerrte und spuckte und irgendwie kam ich plötzlich
los. Meine Zunge tat noch tagelang weh und nicht mal die Fischstäbchen wollte so
richtig schmecken, aber ich ertrug es mit der stoischen Ruhe eines
Grundschülers, der sich keinerlei Blöße geben wollte.
Manchmal halfen auch bloße Androhungen, um sich aus
missgeschicklichen Lagen zu befreien. Als ich versuchsweise meinen Kopf durch Stahlverstrebungen
am Treppengeländer meiner Großeltern schob – rein ging ganz einfach, nur raus
leider nicht mehr, da die Ohren nun im Weg waren – entschied meine die Familie,
dass man wohl besser die Feuerwehr rufen sollte. Das wirkte Wunder, und wenn
auch meine Ohren seitdem wohl in einem anderen Winkel abstehen – das Gefühl,
sich selbst befreit zu haben, stärkte das Selbstbewußtsein ungemein.
Viele gutgemeinte Ratschläge ignorierte ich jedoch,
insbesondere die meiner Großmutter, die Mückenstiche mit Spucke heilte und
Warzen mit Magie. Für alle diejenigen, die es trotzdem einmal ausprobieren
möchten, hier ihr Rezept: Man vergräbt bei Vollmond eine Speckschwarte an der
linken Hausseite und wenn diese verottet ist, ist man auch seine Warzen los.
Sie schwörte drauf – großes Pfadfinderehrenwort.
Susie Vrobel, Mai 2012