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in der Wetterau (Teil 19)
Ich habe mir heute ein
neues Fahrrad gekauft. Es ersetzt mein Ragazzi-Rad, das ich vor Jahrzehnten im
Real-Markt Kassel einst für 130 DM erwarb. Der Zahn der Zeit hatte dem Gefährt zugegebenermaßen
schwer zugesetzt. An den Spott meiner Mitbürger hatte ich mich ja schon gewöhnt
(„Susie, wozu schließt du das Ding denn ab?“, „Hält das bis Friedberg?“).
Solche Bemerkungen gingen mir jedoch an der Badehose vorbei. Mir fiel auch
nicht auf, dass die Handbremse nicht mehr funktionierte. Das fand ich dann
letzten Freitag heraus. Die Folgen (ein verstauchter und zur doppelten Größe
angeschwollener Finger, großflächige Schürfwunden am Ellenbogen und diverse
blaue Flecke) überzeugten mich schließlich. Das neue klappert nicht und die hämischen
Bemerkungen bleiben aus.
Mein erstes Fahrrad hatte
weder Gangschaltung noch Gepäckträger, war jedoch so robust, dass man
eindrucksvoll absteigen konnte. In den Sechzigern sah das so aus: Am Bolzplatz
angekommen, sprang man ohne zu bremsen ab und ließ das Fahrrad in ein Gebüsch
rasen, indem es dann zum Stehen kam. Wichtig war, sich nicht mehr umzudrehen,
um zu sehen, wo es gelandet war, sondern geradewegs zu den anderen Kindern auf
den Fußballplatz zu laufen. Wer sich nach seinem Rad umdrehte, spielte
höchstens noch den Sepp Maier im Tor. Oder wurde – noch schlimmer – in der
Verteidigung eingesetzt. Der Gipfel der Erniedrigung war es jedoch, die Rolle
von Berti Vogts übernehmen zu müssen.
Dazu muss man wissen,
dass wir damals auf dem Feld sofort die Identitäten der damaligen
Nationalmannschaft annahmen. Wer auf welcher Position spielte, wurde von den
Mannschaftskapitänen festgelegt. Dazu liefen diese aufeinander zu, indem sie
genau einen Fuß vor den anderen setzten, bis sie sich in der Mitte trafen. Wer
den letzten Fuß gerade auf den Boden setzen konnte, begann mit der Auswahl der
Spieler. Die vollkommen talentfreien Zwillinge von nebenan standen immer als
letzte auf dem Platz, bis ein Junge mit dicker Brille in die Nachbarschaft zog,
der den Ball auch nicht getroffen hätte, wenn man ihn festgenagelt hätte.
Diese natürliche Auslese
traf jedoch nicht auf die Mannschaftskapitäne zu. Hier reichte der Besitz eines
Lederballs zur Qualifikation. Einen Schiedsrichter brauchten wir auch nicht.
Bei Meinungsverschiedenheiten nahm der Besitzer seinen Ball unter den Arm und
drohte, damit sofort nach Hause zu radeln. Diese Ankündigung führte meist zu
einem spontanen Sinneswandel unter den Spielern, da man sonst mit einem ultra-leichten
Plastikball hätte weiterspielen müssen.
Irgendwann bekam auch ich
einen Lederball geschenkt, und konnte fortan nicht nur mein Team einteilen,
sondern auch selbst wahlweise als Franz Beckenbauer das Mittelfeld
kontrollieren oder als Gerd Müller das ein oder andere Tor schießen. Zum Rollentausch
genügte es, lautstark anzukündigen, dass man sich ab jetzt in einen Stürmer
verwandelt hat. Berti Vogts mit der dicken Brille nahm dies erwartungsgemäß protestlos
hin und auch der Rest fügte sich schnell.
Obwohl wir damals jeden
Nachmittag Fußball spielten, wusste keiner genau, was Abseits bedeutete. Man hörte zwar hin und wieder einen Aufschrei,
doch der wurde ignoriert. Was dazu führte, dass ich mich als Gerd Müller
seelenruhig vor dem Tor des Gegners positionieren konnte und einfach auf einen
guten Pass warten konnte. Fußballgeschichte haben wir nicht geschrieben, aber
dafür waren wir alle fit und cool – oder besser locker, denn der Ausdruck
cool existierte damals noch nicht in den hiesigen Gefilden.
Der Fußball wirkte sich
auch auf andere Lebensbereiche aus. Mein Bruder trug damals einen Günter-Netzer-Haarschnitt.
Haarschnitt ist vielleicht etwas
übertrieben – er hatte lange blonde Haare, die überall herumschwirrten, und die
Sicht verdeckten, wenn er den Kopf drehte. Wenn ich mich recht erinnere, war
dies damals nur bedingt dem Einfluss der Hippie-Kultur zuzuschreiben – es lag
wohl eher daran, dass meine Mutter, die damals unsere Frisuren bestimmte, auf Günter
Netzer stand.
Damals hatten wir noch
den Durchblick.
Susie Vrobel, August 2013