Dienstag, 27. August 2013

Wetterauer Geschichten Teil19

Zurück in der Wetterau (Teil 19)

Ich habe mir heute ein neues Fahrrad gekauft. Es ersetzt mein Ragazzi-Rad, das ich vor Jahrzehnten im Real-Markt Kassel einst für 130 DM erwarb. Der Zahn der Zeit hatte dem Gefährt zugegebenermaßen schwer zugesetzt. An den Spott meiner Mitbürger hatte ich mich ja schon gewöhnt („Susie, wozu schließt du das Ding denn ab?“, „Hält das bis Friedberg?“). Solche Bemerkungen gingen mir jedoch an der Badehose vorbei. Mir fiel auch nicht auf, dass die Handbremse nicht mehr funktionierte. Das fand ich dann letzten Freitag heraus. Die Folgen (ein verstauchter und zur doppelten Größe angeschwollener Finger, großflächige Schürfwunden am Ellenbogen und diverse blaue Flecke) überzeugten mich schließlich. Das neue klappert nicht und die hämischen Bemerkungen bleiben aus.

Mein erstes Fahrrad hatte weder Gangschaltung noch Gepäckträger, war jedoch so robust, dass man eindrucksvoll absteigen konnte. In den Sechzigern sah das so aus: Am Bolzplatz angekommen, sprang man ohne zu bremsen ab und ließ das Fahrrad in ein Gebüsch rasen, indem es dann zum Stehen kam. Wichtig war, sich nicht mehr umzudrehen, um zu sehen, wo es gelandet war, sondern geradewegs zu den anderen Kindern auf den Fußballplatz zu laufen. Wer sich nach seinem Rad umdrehte, spielte höchstens noch den Sepp Maier im Tor. Oder wurde – noch schlimmer – in der Verteidigung eingesetzt. Der Gipfel der Erniedrigung war es jedoch, die Rolle von Berti Vogts übernehmen zu müssen.

Dazu muss man wissen, dass wir damals auf dem Feld sofort die Identitäten der damaligen Nationalmannschaft annahmen. Wer auf welcher Position spielte, wurde von den Mannschaftskapitänen festgelegt. Dazu liefen diese aufeinander zu, indem sie genau einen Fuß vor den anderen setzten, bis sie sich in der Mitte trafen. Wer den letzten Fuß gerade auf den Boden setzen konnte, begann mit der Auswahl der Spieler. Die vollkommen talentfreien Zwillinge von nebenan standen immer als letzte auf dem Platz, bis ein Junge mit dicker Brille in die Nachbarschaft zog, der den Ball auch nicht getroffen hätte, wenn man ihn festgenagelt hätte.

Diese natürliche Auslese traf jedoch nicht auf die Mannschaftskapitäne zu. Hier reichte der Besitz eines Lederballs zur Qualifikation. Einen Schiedsrichter brauchten wir auch nicht. Bei Meinungsverschiedenheiten nahm der Besitzer seinen Ball unter den Arm und drohte, damit sofort nach Hause zu radeln. Diese Ankündigung führte meist zu einem spontanen Sinneswandel unter den Spielern, da man sonst mit einem ultra-leichten Plastikball hätte weiterspielen müssen.

Irgendwann bekam auch ich einen Lederball geschenkt, und konnte fortan nicht nur mein Team einteilen, sondern auch selbst wahlweise als Franz Beckenbauer das Mittelfeld kontrollieren oder als Gerd Müller das ein oder andere Tor schießen. Zum Rollentausch genügte es, lautstark anzukündigen, dass man sich ab jetzt in einen Stürmer verwandelt hat. Berti Vogts mit der dicken Brille nahm dies erwartungsgemäß protestlos hin und auch der Rest fügte sich schnell.

Obwohl wir damals jeden Nachmittag Fußball spielten, wusste keiner genau, was Abseits bedeutete. Man hörte zwar hin und wieder einen Aufschrei, doch der wurde ignoriert. Was dazu führte, dass ich mich als Gerd Müller seelenruhig vor dem Tor des Gegners positionieren konnte und einfach auf einen guten Pass warten konnte. Fußballgeschichte haben wir nicht geschrieben, aber dafür waren wir alle fit und cool – oder besser locker, denn der Ausdruck cool existierte damals noch nicht in den hiesigen Gefilden.

Der Fußball wirkte sich auch auf andere Lebensbereiche aus. Mein Bruder trug damals einen Günter-Netzer-Haarschnitt. Haarschnitt ist vielleicht etwas übertrieben – er hatte lange blonde Haare, die überall herumschwirrten, und die Sicht verdeckten, wenn er den Kopf drehte. Wenn ich mich recht erinnere, war dies damals nur bedingt dem Einfluss der Hippie-Kultur zuzuschreiben – es lag wohl eher daran, dass meine Mutter, die damals unsere Frisuren bestimmte, auf Günter Netzer stand.

Damals hatten wir noch den Durchblick.


Susie Vrobel, August 2013

Samstag, 15. Juni 2013

Wetterauer Geschichten Teil 18

Zurück in der Wetterau (Teil 18)

Oft radele ich auf dem Weg nach Friedberg am neuen Jugendzentrum vorbei – ein freundlich anmutendes, modernes Gebäude mit vielerlei Sporteinrichtungen. Von innen kenne ich es nur aus Photos der Lokalpresse, denn als Üfü schaue ich dort besser nicht hinein, wenn ich den Kommentaren („Mein Gott – jetzt kommen sie schon zum Sterben hierher!“) entgehen möchte.

Kaum zu glauben, aber auch meine Generation hatte einen solchen Treffpunkt. Für mache war es wohl auch eine zweite Heimat. Mitte der Siebziger verbrachten wir unsere Freistunden und Nachmittage oft im alten Juz in der Bismarckstrasse 24 – genau 2 ½ Minuten Fußweg vom Augustinergymnasium. Das Gebäude war mehr als sanierungsbedürftig, aber das störte niemanden. So manche Session fand davor statt, mit Loschi an den Bongos oder Kongas, Moses an der Gitarre und uns anderen singend oder ebenfalls Gitarren schrubbend.

Betrat man das Gebäude, ging man ein an ein paar Postern vorbei, drei Treppenstufen hinab, in das Café (oder sollte ich lieber „Kneipe“ sagen?). Die Theke befand sich rechts, die Tische und Bänke links. Die Holzverkleidungen der Nischen waren selbst zurechtgezimmert und so zog man sich beim Hineingleiten den ein oder anderen Schliffer zu. Doch die waren schnell vergessen, fanden doch um die Holztische existenzielle Diskussionen statt. Wie stehen wir zum Paragraph 218? Oder – etwas später – zu den Notstandsgesetzen? Ermüdet fanden wir jedoch bald zu Schach und Doppelkopf zurück. Bis irgendjemand laut verkündete: „Die 4. Stunde fängt gleich an!“ Hier trennten sich nun zwei Welten: Diejenigen, die zurück zum Unterricht rannten, und dem Rest, der darauf hoffte, dass die Abwesenheit nicht bemerkt würde.

An freien Nachmittagen oder Abenden verdienten wir uns mit dem Thekendienst im Juz ein paar Mark dazu. Die Abrechnungen am Ende waren etwas nervenaufreibend, denn es dauerte oft einige gefühlte Ewigkeiten, die verkauften Kakaos und Biere mit Papier und Bleistift zusammenzurechnen. Aber dafür konnten wir die LPs auswählen und den Nachmittag nach unserem Musikgeschmack gestalten: Frank Zappa & The Mothers of Invention, Led Zeppelin, Jimi Hendrix und Janis Joplin.

Mit der Hygiene nahmen wir es nicht ganz so genau. Als Hugo der Käsekuchen auf den Boden glitt, kehrte er mit einem freundlichen „Hoppla!“ die Überreste zusammen und servierte sie einem verblüfften Gast mit den Worten: „Wir sind ja nicht im Hilton!“

Das Café war aber nur ein kleiner Teil des Juz. Weiter hinten – man lief durch einen dunklen Gang, vorbei am Siebdruckgerät und Toiletten  – befand sich ein großer Raum, in dem Konzerte, Vollversammlungen und Filmvorführungen stattfanden

Bei einem Musikwettbewerb ergatterte ich mit einigen Beatles-Nummern – Dank meiner Freunde im Publikum – den 2. Platz: Der Preis war ein Gitarrenständer für eine Elektrogitarre. Leider hatte ich keine, und meine Westerngitarre war viel zu breit und passte nicht hinein. Egal – es war ein Grund zum Feiern. Erster wurde die Gruppe Schtonk mit Obi am Schlagzeug. Eine tschechoslowakische Band hatte leider nicht so viele Fans im Publikum und musste sich mit der Bronze-Medaille zufrieden geben.

An die meisten Konzerte kann ich mich nicht mehr erinnern. Da gab es jedoch einen irischen Jüngling names Julian Dawson, der es mir sehr angetan hatte. Singen konnte er zwar auch schön („I’m a-going fishing …“), doch darüber hinaus sah er auch glänzend aus und trug die coolsten Sneakers weit und breit – ganz in weiß, so wie Art Garfunkel auf dem LP-Cover Bridge over Troubled Water.

Dicht gedrängt, teils auf Stühlen, teils auf dem Boden sahen wir uns die Kultfilme jener Zeit an (damals sah man sich Filme nicht an, sondern „zog sie sich rein“). Es war ein seltsam anmutendes Gemisch aus A Hard Day’s NightZur Sache, Schätzchen und natürlich dem niemals enden wollenden Concert for Bangladesh.

Wir waren selbstverwaltet, und so wurden in regelmäßigen Abständen Vollversammlungen abgehalten, in denen wir über das Budget und Verantwortlichkeiten stritten, das Burgfest planten und bauliche Veränderungen in Angriff nahmen. Die Sitzungen waren schier endlos, nicht zuletzt, da wir nun alle gelernt hatten, wie man einen Antrag zur Geschäftsordnung stellt (beide Hände hoch).

Peter Hase, der damalige Sozialarbeiter im Juz („Mein Name ist Hase – ich weiß von nichts“),  hatte es nicht immer leicht mit uns, aber er managte eine Schadensbegrenzung nach der anderen mit Bravour, auch wenn seine Nerven damals wohl sehr gelitten haben müssen.

Moses & Aaron hatten ein Fotolabor im Keller des Juz, wo sie unter anderem auch ein Geburtstagsgeschenk für mich anfertigten: Ein Portrait von mir und Paul McCartney (den ich damals anhimmelte). Leider stand der Beatle nicht für einen Fototermin zur Verfügung, und so musste Schlumpf für die Rohfassung herhalten (der Kopf wurde von Moses & Aaron fachmännisch ausgetauscht). Leider habe ich das Endprodukt nicht mehr – nur noch die Ergebnisse der Fotosession vor dem Juz. Mir hatte damals zwar keiner erklärt, wozu ich mich in Pose werfen sollte, aber ich spielte gerne mit.



(c) Moses & Aaron (in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts)

Damals waren wir halt gutgläubiger.

Susie Vrobel, Juni 2013




Donnerstag, 13. Juni 2013

Wetterauer Geschichten Teil 17

Zurück in der Wetterau (Teil 17)

Die blauen Flecken auf meinem Kinn und Arm erwecken das Interesse meiner Mitbürger. Nein, ich war nicht in eine Schlägerei verwickelt – die Balkontür kam mir durch einen unvorhergesehenen Luftzug jäh entgegen und erwischte mich kalt.

Anfang der Siebziger Jahre hätte mich kein Mensch gefragt, woher die Blessuren stammen, da wir damals alle so lädiert aussahen. Der Grund war ein neues Spielzeug, das in Windeseile alle Schüler des Augustinergymnasiums infizierte: Es hieß – onomatopoetisch – „Klack-Klack“ und bestand aus zwei harten Kunststoffkugeln, die durch eine Schnur verbunden waren. Man legte den Ring in der Mitte der Kordel über den Mittelfinger und ließ die Kugeln – zunächst langsam – aufeinander prallen, indem man die Hand rhythmisch auf und ab bewegte. Das Ganze wurde nach ein paar Sekunden so schnell, dass sich die Klack-Klack Kugeln auch in Kopfhöhe trafen (daher die blauen Flecken am Kinn) um daraufhin wieder herunterzuschnellen (um auf unsere ungeschützten Unterarme zu treffen). Auch wenn sich das Verklagen von Herstellern in den Siebziger Jahren noch nicht zum Volkssport etabliert hatte, verschwand das Spiel nach kurzer Zeit aus den Regalen, nachdem es an vielen Schulen verboten wurde. Das nützt aber nichts, da wir ja mittlerweile alle stolze Besitzer des neuen Gimmicks waren.




Als ein Nachbarsjunge beide Schneidezähne verlor, nickten viele Erwachsene bedeutungsvoll, hatten sie es doch schon immer gewusst: das Teufelszeug war an allem Schuld. Doch der besagte Junge – nennen wir ihn P. – wurde Opfer unseres Forscherdrangs. Wir entzündeten die Lunten einiger Feuerwerkskörper und warfen sie in einen Mülleimer, um zu sehen, wie laut es scheppern würde. Damals waren die Mülltonnen, samt Deckel, noch aus Stahl und nachdem eine Weile nichts passierte, beugte sich P. über den Eimer, um nachzusehen. Die Explosion erfolgte innerhalb eines Sekundenbruchteils und riss den Deckel hoch. Der Rest ist Zahnarztgeschichte.

Auch die großen Kosmos-Chemiekästen erfeuten sich außerordentlicher Beliebtheit in dieser Zeit. P. hatte eigentlich großes Glück, denn er konnte sich nach der heftigen Explosion in seinem Zimmer noch aus auf allen Vieren herausrobben. Seine beiden Wellensittiche jedoch – sie hießen Jakob und Sarah und waren mir wohlbekannt, da sie vor den Kosmos-Zeiten auch oft auf meinem Kopf landeten – wurden auf Grund der erstaunlichen Gasentwicklung jäh ins Vogel-Jenseits befördert.

Wo war ich? Ach ja: Der novelty effect der Klack-Klacks verblasste bald mit dem Erscheinen der neuen Foltergeräte aus den Yps-Heftchen, und so wanderten die Kugeln entweder für immer in den Keller oder wurden zeitnah von genervten Eltern entsorgt.

Of hört man, dass die Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts einen craze nach dem anderen hervorbrachten. Glauben Sie mir – die Siebziger Jahre standen den roaring twenties in nichts nach. Als Mitte der Siebziger die Yps-Heftchen auftauchten, befand sich in jeder Ausgabe mindestens ein Gimmick für angehende Spione und Abenteurer.

Die Fingerzerhackmaschine musste man selbst zusammen bauen – es war eine kleine Guillotine aus Plastik mit einer richtigen Klinge. Baute man diese nicht richtig herum ein, so endeten die Vorführungen in einem – wenn auch überschaubaren – Blutbad. Charles, ein etwa 10-jähriger Wölfling, hatte Glück, denn er wurde von uns Scouts umgehend fachmännisch verarztet. Zum Überlebenstraining rüstete uns Yps mit Lupen, Abhörgeräten und vielerlei nützlicher Dinge aus. Noch heute habe ich mein Überlebenspack für die Wüste, da ich ihn nie benutzt habe: ein Beutel Kabapulver, der in zwei übereinander gleitenden Plastiktaschen sandsturmsicher verpackt war. Zur Sicherheit sollte er unter dem T-Shirt an einer Schnur um den Hals getragen werden. Ich habe mich oft gefragt, woher ich in der Wüste denn die Milch nehmen sollte, um den Plantagentrank schmackhaft anzurühren. Aber das waren eher kleinliche Gedanken, die einen wahren Abenteurer nicht abschrecken sollten. Sollte ich eines Tages in der Wüste Gobi einer Ziegenherde begegnen, bin ich gerüstet.

Ich glaube, der Selektionseffekt derer, die alle unfallträchtigen Spielzeuge dieser Zeit überlebt haben, wird oft unterschätzt. Die knallorangenen Hüpfbälle, die Boomerangs und Frisbees konnten meiner Generation nichts mehr anhaben. Die Pfadfinderlosung dieser Zeit hieß: „Was uns nicht tötet, macht uns nur noch stärker“. Ich habe nie herausgefunden, wer diesen dämlichen Satz formuliert hat.

Damals gab es halt noch pädagogisch wertvolles Spielzeug.

Susie Vrobel, Juni 2013




Montag, 27. Mai 2013

Wetterauer Geschichten Teil 16

Zurück in der Wetterau (Teil 16)

Nein, ich habe noch keinen 3-D Drucker. Aber ich habe ein wachsames Auge auf die neue Technologie geworfen, denn sie ruft längst vergessene Gedankenexperimente wieder ins Bewusstsein aus einer Zeit, in der wir gern unsere Double Bubbles ad infinitum dupliziert hätten.

Das Sechziger-Jahre Pendant zum 3-D Drucker war Daniel Düsentriebs Duplikator. Ältere Semester erinnern sich an die Wundermaschine des quirligen Erfinders aus Entenhausen. Der Duplikator benötigte keine Kunstharze und konnte alles von Brotschmiermaschinen bis hin zu Gespenstern und anderen Lebewesen in einem Sekundenbruchteil klonen („klonen“ hieß das damals allerdings noch nicht).

Fragte man damals ein Kind, was es sich am meisten wünsche, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen: „Einen Duplikator.“ Das war die cleverste Antwort nach „Zauberstab“. Wir wussten natürlich, dass fast alle Erfindungen des Entenhausener Erfinders in einem Desaster endeten. Doch die Idee war geboren und ging uns nicht mehr aus dem Kopf.

Fortan unterteilte man die Welt in Dinge und Personen, die man gern replizieren würde und solche, die bereits als Einzelexemplare schwer zu verdauen waren. Meine Matchbox- und Schneckensammlung waren beispielsweise „potenzielle Duplikator-Kandidaten“, während meine Handarbeitslehrerin in der Grundschule definitiv ein Fall für die „Bloß nicht!“-Kategorie war.

Jene Dame verstand es, uns wöchentlich zu demoralisieren, wenn wir uns mit unseren Häkelarbeiten in einer Reihe zur Inspektion aufstellen mussten. Während dieser Prozedur blieb meist kein Auge trocken, da sie mit gezieltem Blick immer – irgendwo weit unten – einen zu eng oder zu lasch gehäkelten Teil ausmachte und daraufhin das gesamte Werk „aufröppelte“.

Dass ich weder zum Häkeln noch zum Stricken geboren war, wurde mir früh klar, also übernahm meine Oma die Handarbeiten. Das ging auch eine Weile ganz gut, bis sie drei Wochen in Kur war und ich meinen nun gezwungenermaßen selbstgestrickten Schal nächtelang unter schweren Möbelstücken langziehen musste, um der erforderten Länge ein wenig näher zu kommen. Es half aber alles nichts, das löchrige Produkt maß am Ende der Woche kaum 20 cm. Es war jedoch inzwischen so festgezogen, dass es sich sogar dem wöchentlichen „Aufröppeln“ widersetze. Bei den Pfadfindern hätten mir solch unlösbare Knoten großes Lob beschert, nicht jedoch bei besagtem Lehrkörper.

Aber zurück zur Welt der Literatur. Daniel Düsentrieb war nicht der einzige Comic-Held, der begehrenswerte Objekte besaß. Auch der Kater Felix hatte eine Tasche, die wie ein schwarzes Loch, vom Butterbrot bis zum Kleinwagen, alles in sich aufnehmen konnte. Aber mit einer schwarzen Handtasche herumzulaufen war auch damals äußerst uncool. Und so sahen wir uns nach passenderen Helden um. Plastic Man aus den Marvel Comics war nur bedingt nachzuspielen – man musste jeweils ankündigen, wie weit Arme oder Beine ausgestreckt waren, um den Bösewicht zu erwischen: „Plastic Man- ich habe dir ein Bein gestellt!“ Doch nur die ganz Unerfahrenen ließen sich daraufhin zu Boden fallen. Viertklässler verwandelten sich sofort in Invisible Woman und waren rückwirkend unsichtbar.

Neben den in ganz Friedberg herumgereichten und meist schon leicht zerfledderten Comicheftchen hüteten wir jedoch auch literarische Schätze ganz anderer Art: Jedes Kind hatte ein Poesiealbum, in das Familie und Freunde tiefsinnige Verse eintrugen, die mit eingeklebten bunten Bildchen und Zeichnungen verziert wurden. In die vier Ecken der linken Seite malte man kleine Dreiecke mit kurzen Texten: „Blaue Augen, roter Mund, liebe Susi, bleib’ gesund!“ Manchmal wurden die Ecken zu kleinen Täschchen gefaltet, die man aufklappen konnte um ganz persönliche Nachrichten zu lesen oder eher redundante Einträge („Fürs Poesiealbum“). Auf der rechten Seite standen die Ratschläge fürs Leben.“Wer sich an and’re hält, dem wankt die Welt. Wer auf sich selber ruht, steht gut.“ „Pahradis“ tauchte fast in jedem Gedicht auf, auch wenn es keiner so richtig buchstabieren konnte.



Ich habe mein Poesiealbum noch immer. Neben Lebenshilfe und ermahnenden Versen finden sich dort auch pädagogisch weniger wertvolle Eintrage, wie die meines Vaters („Wer Ordnung hält ist nur zu faul zum Suchen“) und meines Bruders („Nachts ist’s kälter als draußen“). Mit diesem Schatz an Lebensweisheiten konnte ja nichts mehr schief gehen.

And so it goes …

Doch zurück zu Daniel Düsentrieb, der uns allen einen alternativen Berufswunsch vorlebte (falls man nicht Astronaut werden konnte). Ich selbst habe eine Rühreimachmaschine erfunden und gebaut, mit Wartesaal für die Eier. Und eine Schuhputzmaschine mit blauen Gummimäusen. Nun, die Prototypen sind dem Sperrmüll zum Opfer gefallen und weitere Versionen gab es nicht. Einen Duplikator habe ich leider nie konstruieren können, und so sind die 3-D Drucker eine Art verspätete Erfüllung meiner damaligen Aspirationen. Heute würde ich mir statt duplizierter Häkelreihen oder Weinbergschnecken wohl eher 4-tägige Wochenenden wünschen. Bisher klappt es mit er Zeitdilatation noch nicht, aber ich bin optimistisch.

Denn damals war halt alles langsamer.

Susie Vrobel


Mai 2013

Freitag, 10. Mai 2013

Wetterauer Geschichten 15

Zurück in der Wetterau! (Teil 15)

Vivi Bach ist nicht mehr unter uns! Ich nehme die Nachricht mit Fassung auf, denn die Dame mit dem unvergleichlichen Akzent wurde immerhin 73. Anfang der Siebziger war ich ein Fan der Familienshow Wünsch Dir was, die die Verblichene an Dietmar Schönherrs Seite moderierte. Die Show sorgte regelmäßig für Aufregung und Gesprächsstoff auf dem Pausenhof. Einige meiner Mitschüler durften die Sendung nicht mehr anschauen, nachdem eine junge Dame in durchsichtiger Bluse auf dem Bildschirm erschien.

Es waren Zeiten, in denen man ohne nähere Differenzierung fragen konnte: „Hast du gestern ferngesehen?“ Und jeder wusste genau, wovon man sprach: Mama Hesselbach hatte ein Dreckrändchen am Sahnetopf entdeckt, den sie am Vorabend großzügig der Nachbarin geliehen hatte: „Ei gehnse fott – mir habbe doch genuch dadedevon!“. Gut, es gab zwar schon drei Kanäle, doch das Programm begann erst am späten Nachmittag mit der Kinderstunde und endete weit vor Mitternacht mit dem Testbild. Übersichtlich.

Hat meine Generation Schaden davon getragen, mit einem solch limitierten Schatz an medialem Entertainment aufzuwachsen? Schwer zu sagen – der Blaue Bock vor Heinz Schenks Pappkulisse hat wahrscheinlich das ein oder andere Neuronenensemble in den kollektiven Selbstmord getrieben. Und auch das Königlich Bayrische Amtsgericht rangierte weit oben auf der Liste der damaligen Verblödungskandidaten.

Doch bin ich mir sicher, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl meiner Generation durch die eingeschränkte Auswahl an TV-Sendungen gestärkt wurde. So teilt meine Generation noch heute die Weisheiten des Hasen Cäsar, der die Schlager für Schlappohren moderierte: „Bitteschööön!“ Meine ersten Erinnerungen an die Kinderstunde der Sechziger sind etwas verschwommen: “Turnikuti turnikuta, Zebulon ist wieder da!“ Wie öde Stoffel und Wolfgang waren fiel uns nicht weiter auf, da unsere Sehgewohnheiten nahtlos an das Zeitlupentempo der Sechziger angepasst waren.

Die Zwillinge Trevor und Tracy aus Please don’t Eat the Daisies konnte niemand auseinander halten. Doch das konnte man gut verdauen, denn sehr viel komplexer wurde das Programm nicht: Lieber Onkel Bill langweilte sogar die Grundschüler. Ein Lichtblick waren Flipper und Daktari, da sie uns die Fauna jenseits der Wetterau ins heimische Wohnzimmer katapultierten. Wir spielten die Abenteuer nach, doch keiner wollte die Rolle von District Officer Hedley übernehmen.  Fürs Urmeli waren wir eigentlich schon zu alt, aber ich verwette meine Ranch, dass fast alle 52-jährigen das Urmellied heute noch singen können.

Die Kulisse im Beatclub und anderen Musiksendungen erinnerte meist an eine Baustelle. Es war damals überaus schick, sich beim Singen durch Baugerüste zu schlängeln. Von Udo Jürgens sah man selten mehr als den Kopf und die ein oder andere Extremität, die hinter einem Querträger hervorlugte. Playing hard to get.  Ich habe nie den tieferen Sinn dieser   Baugerüste verstanden.

Die Printmedien waren ebenfalls mehr als übersichtlich. Noch heute kommen uns die lateinischen Zitate aus Asterix mühelos über die Lippen. Wer, wie ich, weder das kleine noch das große Latinum absolviert hatte, konnte sich doch wenigstens mit dem großen Asterix Abschluss schmücken.

Radio hörte man damals meist vor der heimischen Stereoanlage, die aus einem Plattenspieler, Kassettenrecorder und normalem Radio bestand (das Wort Tuner hatte damals noch niemand in den Mund genommen) und eine halbe Tonne wog, oder – mit fortgeschrittenem Alter – abends im Auto. Vor grauen Vorzeiten gab es in unserem VW Käfer ein Radio mit fünf weißlichen Tasten und zwei beigen Knöpfen, die mit einer gekonnten Umdrehung sämtliche Sender abdeckten. Die Auswahl war limitiert, jedoch fand man im den Amisender AFN Frankfurt ohne Hinzugucken – etwa bei 96. Casey Kasems countdown der Top 40 war ein must. Und wer in den Siebzigern erst Mittags aus den Federn fand, dem half Charlie Tuna, den Tag zu strukturieren. Doch in diesen Genuss kamen wir erst später, denn wir mussten natürlich gegen sieben Uhr dreißig das Haus verlassen, um uns rechtzeitig in der Augustinerschule in Stolle Willis Klasse einzufinden.

Doch der Sender hatte auch mehrere Programme zum Abgewöhnen auf Lager. Da war zum Beispiel die tägliche German Phrase of the Day – meist von limitiertem kommunikativen Wert: „Heute ist Ostermontag“. Wer am Samstag Nachmittag zum Autowaschen etwas Unterhaltung begehrte, der war erbarmungsloser Country-Musik ausgeliefert. My Kind of Country, my Kind of Music plänkerte den gesamten Nachmittag über den Sender.

Der Amisender begleitete mich noch während meines Studiums. So verdiente ich mir mit einem Detektivjob im Rohbau des Dolce ein paar Mark. Der Job war überaus angenehm und erlaubte mir, zwei Hausarbeiten in Linguistik und Literaturwissenschaft zu verfassen, während ich Charlie Tuna zuhörte und nebenbei natürlich gewissenhaft meinen Job absolvierte: auf einem Stuhl zu sitzen.

Stay tuna!

Früher war halt alles packender.

Susie Vrobel, Mai 2013

Donnerstag, 18. April 2013

Wetterauer Geschichten 14

Zurück in der Wetterau (14)

 „Erwin! Ich bin bei der Marmelade!“

Dieser markerschütternde Schrei erschallte unlängst im Tegut in der Stresemannstrasse. Rentner haben in der Regel kein Smartphone und vertrauen bei der Kontaktaufnahme auf ihr durchtrainiertes Organ. Dies verursacht zwar den ein oder anderen Schock unter den noch gut hörenden Einkäufern, doch ist der Rapport in der Regel schnell wieder verhallt. Sobald sich mein Puls wieder eingependelt hatte, relativierte sich das anfängliche Urteil schnell: Immer noch besser, als das nicht enden wollende Geplapper der Mobilfunknutzer.

Es gab Zeiten, in denen solch Zugeständnisse niemandem in den Sinn kamen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass außer Captain Kirk und Spock niemand über zigarettenpäckchengroße devices kommunizieren konnte. Es war die Zeit des „Kleinen Tierfreunds“, in denen man das limitierte, jedoch in Ruhe aufgesaugte Wissen oder auch haarsträubende Gerüchte erst dann weiter geben konnte, wenn man entweder einen wissbegierigen Zuhörer oder eine captive audience in Fleisch und Blut vor sich hatte.

Es waren die frühen Siebziger. Wir erfreuten uns damals wunderbarer Auszeiten, in denen man nicht überwacht wurde. So kämpften wir uns als 12-jährige nach einem halben Jahr Französischunterricht drei Tage und Nächte ohne Erwachsene durch Südfrankreich. Das Projekt (in den 70ern wurden fast alle nicht unmittelbar verständlichen Aktionen als Projekt bezeichnet) war französisch sprechenden Zeitgenossen als trappeur bekannt. Unsere Eltern glaubten uns wohlbehalten und unter Aufsicht in einem Pfadfinderlager irgendwo an der Dordogne, doch die Realität sah anders aus.

Mit Zeichensprache, Kompass und einem Schweizermesser schlugen wir uns (zwei französische und zwei deutsche 11- bis 12-jährige Pfadfinder) durch die Felder weit ab jeglicher Zivilisation. Wenn wir müde wurden, schlugen wir unser Zelt auf, klauten ein paar Maiskolben und grillen sie über dem Lagerfeuer. Die erste Feuerwache schlief sofort ein, so dass wir uns ohne Frühstück und in klammen Klamotten wieder auf den Weg machen mussten.

An diesem Morgen bemerkte ich, dass wir seit einigen Stunden die Spur eines Berglöwen kreuzten. Und so folgten wir vorsichtig dem ausgetrockneten Flusslauf, immer Ausschau haltend nach verborgenen Großkatzen. Florence sprach immer wieder das nicht stattgefundene Frühstück an, doch nun gab es existenziellere Bedrohungen. Ich hatte mein Messer zwischen die Zähne geklemmt, um beide Hände frei zu haben, falls sich die Bestie auf uns stürzen würde (die anderen waren nicht bewaffnet). Nach einigen Flussbiegungen glaubte ich selbst an meine Schauergeschichten und auch meine Knie wurden weich. Die drei Tage des trappeur erschienen endlos – menschenleere Feldwege, und keine Telefonzelle weit und breit (Smartphones gab es noch nicht) – doch irgendwie erreichten wir schließlich das Dorf, in dem wir uns mit dem Rest der Truppe verabredet hatten. Und so verdreckt und verschwitzt wie wir damals wieder in die Zivilisation eintauchten war es wohl ganz gut, dass es keine social networks gab, um dem Rest der Welt zu zeigen, welch aufregendes Leben man führte.

Jetzt läuft der Hase etwas anders. Auf meiner facebook wall tummeln sich in viertel-stündigen Intervallen Einträge meiner Bekannten, die nun alle Hände voll zu tun haben, dem geschmackvollen, gebildeten und attraktiven Avatar zu entsprechen, der sich mir nichts dir nichts im virtuellen Raum entwickelt hat.
Und wehe, ich finde das Foto der Katze oder des Sprösslings nicht „süß“, die Aufnahmen von vorbeifahrenden Autos nicht geil, geil … oder signalisiere nicht schleunigst meine tiefe Betroffenheit.
Böse Zungen behaupten, dass ich nichts hochlade, weil ich nach meinen Angelausflügen außer einer verwurschtelten Leine und ein paar Kratzern nichts vorzuweisen habe.

And so it goes ...

Wo war ich? Ach ja – im Tegut. Erwin sehnt sich wahrscheinlich zurück in die Zeiten der Tante Emma Läden, wo er und die Marmelade leichter zu lokalisieren waren als im neuen A&O in der Taunusstraße.

Und jetzt fällt es mir schwer, den gewohnten Abschluss mit „Aber früher waren wir halt …“ zu finden. Mike Brady wäre wahrscheinlich der Einzige, der hier noch etwas hinzufügen könnte.

Susie Vrobel, April 2013