Sonntag, 30. Oktober 2011

Wetterauer Geschichten Teil8

Zurück in der Wetterau (8)

Ich habe mir beim Eisenreich auf der Kaiserstrasse ein Paar gelbe Chucks gekauft. Ein Einschnitt in meinem Leben, denn bisher trug ich dunkelblau – oder navy-blue, wie es heutzutage heißt. In meinem Schrank türmen sich über ein halbes Dutzend abgelaufener Schuhe jener Marke. Wegwerfen kann man sie nicht, da – wie jeder weiß – die von Sonne und Waschmaschine gebleichten Chucks mit eingerissener Gummisohle mit zunehmendem Alter immer wertvoller werden.

Früher gingen Schuhe nicht kaputt, da sie vor dem Zerfall bereits anfingen, zu drücken. Das war jedoch nicht weiter schlimm, denn in den Sechzigern waren Turnschuhe noch so erschwinglich, dass man die schnell wachsenden Füße sofort in ein neues Paar der gleichen Marke stecken konnte. Die Qual der Wahl kannten wir nicht, denn es gab nur eine Sorte:

In den 60er Jahren trugen alle Kinder die gleichen dunkelblauen Segeltuchschuhe mit der weißen Gummisohle. Keiner von uns hätte den Markennamen nennen können, es waren ganz einfach „Turnschuhe“. So sahen wir im Sportunterricht denn auch alle gleich aus: schwarze ärmellose Turnhemden, eine kurze Turnhose aus Baumwolle und dazu – das einzige Turnschuhmodell der Sechziger Jahre. Dies erklärte auch die Notwendigkeit, Namensschildchen in die Sportbekleidung einzunähen, denn vergaß man sein Turnhemd oder die Schuhe in der Umkleide, wären sie sonst im Fundus des Hausmeisters kaum zu identifizieren gewesen.

Turnschuhe waren definitiv keine Strassenschuhe: sie waren uncool und rochen nicht besonders gut. Und sollte trotz allem ein Kind in blauen Segeltuchschuhen auf der Strasse gesehen werden, war die Diagnose schnell gestellt: „Haha – dem haben sie die Schuhe in der Umkleide geklaut!“ Und so weinte keiner dem alten Paar eine Träne nach, wenn es denn begann, zu drücken.
Dies änderte sich erst Anfang der Siebziger, als wir bemerkten, dass man ganz wunderbar mit einem Kugelschreiber auf ausgebleichtes Segeltuch schreiben und malen konnte. Fast so gut wie auf verwaschene Jeans. Den nun folgenden Bekritzelungs- und Bemalungsorgien, in denen wir unsere tiefsinnigen Weltanschaungen, kunstvolle Kopien der Led Zepplin Alben und die Namen unserer Lieblings-Popstars auf Schuhen und Hosen verewigt hatten (auf den dunkelgrünen Parkas waren sie weniger gut lesbar), folgte nach einigen Wochen die Ernüchterung. Was tun, wenn die Lieblingsband plötzlich eine peinliche, grottenschlechte LP herausbrachte? Wegätzen ging nicht – dann hätte man ja ein Loch im mühsam verschönerten Leinenstoff. Gut, dass Tattoos damals noch nicht „in“ waren. Sonst gliche die Epidermis meiner Generation heute der Niki Laudas. Manch einer griff zu Domestos, doch die so entstandenen weißen Stellen wurden schnell spröde und rissen bei der nächsten Wäsche ein. Letztere konnte man in den 70ern getrost auf den nächsten Monat verschieben – dreckige Jeans waren überaus cool und fielen auch nicht weiter auf – doch irgendwann mußte man sich dem Zahn der Zeit stellen. Ganz arm dran waren die Mitschüler, die sich voreilig „Bay City Rollers“ mitsamt Schottenmuster auf die Schuhe gemalt hatten. Entweder versanken sie nach ein paar Wochen vor Scham in den Boden oder liefen den Rest des Schuljahres nur noch in Sandalen herum.


Mitte der Siebziger tauchten in Friedberg die knöchelhohen Versionen der Kultschuhe auf. Ich erinnere mich noch genau an mein erstes Exemplar – blau mit weißen Sternen – das ich bestimmt bis zum Abitur getragen hätte, hätte sich da nicht der Zwischenfall im Schullandheim auf der Seiser Alm ereignet. Nachdem wir unsere Ankunft ausgiebig gefeiert hatten, fielen wir todmüde in unsere Etagenbetten. Meine Freundin B., die es sich gerade im Bett über mir bequem gemacht hatte, unterrichtete alle fünf Zimmergenossinen prompt und detailliert über ihr Befinden („Mir ist so schlecht, ich glaube ….“). Die Ankündigung kam jedoch zu spät, denn im nächsten Moment sah ich ihren Mageninhalt im freien Fall an mir vorbei in meinen geliebten Turnschuhen landen. Da kam jede Hilfe zu spät: ich entsorgte die randvollen Chucks im Müllcontainer hinter der Hessenhütte und trug für den Rest der Klassenfahrt meine tonnenschweren Bergsteigerschuhe. Das gab kräftige Wadenmuskeln. Danke, B.!



Heute, so lese ich neuerdings, sind die sympathischen Segeltuchschuhe mit der weißen Gummisohle das understatement schlechthin. Ein understatement kostet übrigens schlappe 69 Euro. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, aber es wird immer teurer.

Susie Vrobel, Oktober 2011