Donnerstag, 19. Januar 2012

Wetterauer Geschichten Teil11

Zurück in der Wetterau (11)

Bürgermeister Michael Keller nannte unlängst das Kasernengelände im Süden der Stadt einen „unerhörten Glücksfall“ für Friedberg, da neues Bauland langsam rar wird. Das nach dem Abzug der Amerikaner entstandene Areal verlassener Kasernen und Wohngebiete erstreckt sich von der Karlsbaderstraße auf Höhe des Dachspfades bis and Ende der Ray Barracks. Es ist heute ein trostloses Niemandsland, doch das war nicht immer so: einst begleiteten uns die Amis auf Schritt und Tritt durch unsere gemütliche Kleinstadt.

Die ersten Amerikaner, an die ich mich erinnern kann, lagen in der Gebäckauslage „beim Theobald“, einem winzigen Einzelhandelsgeschäft an der Ecke Karlsbader - Breslauer Straße. Als Kinder begleiteten wir oft unsere Großmutter zum Einkauf dorthin und durften uns dann einen der kleinen runden Kuchen mit Zuckerguss auf der abgeflachten Unterseite mit nach Hause nehmen. Warum diese Stückchen „Amerikaner“ heißen, weiß ich bis heute nicht. Die jungen Männer in Uniform haben sie jedoch mit Sicherheit nicht eingeschleppt, denn sie existierten schon vor dem Krieg (sagt man so).

Exemplare aus Fleisch und Blut waren zwar, so lange ich denken kann, schon immer Teil des Friedberger Straßenbildes, doch dies waren eben nicht „Amerikaner“, sondern „Amis“. Der Groschen fiel erst später. Anfang der Sechziger sah ich im Vorbeifahren oft neidvoll auf die Schaukeln auf den Spielplätzen der living quarters der Ray Barracks: An langen Ketten hingen breite Leinentücher, auf denen bequem zwei Kinder Platz fanden. Unsere deutschen Schaukeln waren nicht so breit und die Sitzfläche bestand aus einem Holzbrett. Wie gern hätte ich die exotischen Schaukeln ausprobiert! The grass is always greener on the other side of the fence.

Auch sonst war man sich auf Schritt und Tritt der amerikanischen Präsenz bewußt: Wunderschöne gas guzzlers fuhren gemächlich die Kaiserstraße hinauf und hinunter, mit fins und einer breiten, nicht unterteilten Rückbank. Damals hatten die Autos noch Persönlichkeit: sie waren nicht streamlined und kein Mensch scherte sich darum, ob sie im Windtunnel eine gute Figur machten. Sie waren einfach „elend cool“.

Auch die sportlichen Aktivitäten der GIs brachten einen Hauch von Exotik in die Kleinstadt. An der Ecke Königsberger Straße - Im Wingert, fanden regelmäßg Baseballspiele statt. Die jungen Männer auf dem Feld strotzten nur so vor Selbstbewußtsein und kauten gelangweilt auf ihren Wrigley’s Spearmint herum, während sich der pitcher alle Zeit der Welt nahm, um den Ball gezielt zu platzieren. Die Familien der Spieler hatten sich auf einer kleinen Holztribüne versammelt und feuerten, wenn sie nicht gerade den Mund voll hatten, ihr Team enthusiastisch an. Für das Leibliche war wohl gesorgt: ein BBQ und reichlich Bier am Strassenrand lieferten stetigen Nachschub. Nach und nach begriff ich, warum und wann wer warf, fing und losrannte und so beschloss ich, eines Tages auch einmal so cool unter jubelnden Fans einen homerun hinzulegen. Doch es sollte nicht sein, denn keiner meiner Freunde zeigte auch nur das geringste Interesse an meinem neuen Lieblingssport. Später, als ich als Teenager durch Kalifornien trampte, kaufte ich mir meinen ersten baseball glove. Er liegt noch immer in einer Ecke meines Wohnzimmers und wartet darauf, wieder einmal einen Ball zu fangen.

Zur Weihnachtszeit starrten wir im Vorbeifahren auf die hell erleuchteten, mit bunten Lichterketten verzierten Fenster der living quarters. Um „wandernde“ Lämpchen herum erstrahlten die Fassaden und die glitzernden, bonbonfarbenen Father Christmas mitsamt Rudolph und Rentieren. Heute würde mir dazu nur ein Adjektiv einfallen, aber damals verzauberte mich der Anblick dieses verschwenderischen Weihnachtsschmucks.

Dass dieser Straßenzug nur für die Wagen der amerikanischen Anlieger zugelassen war, bekam ich erst viele Jahre später mit, als ich während meiner praktischen Prüfung bemerkte, wie mein Fahrlehrer begann, nervös an seinen Knöpfen herumzuspielen (Sicherheitsgurte gab es damals noch nicht). Wir passierten den Baseballplatz und ich rauschte am Tor zu den Ray Barracks vorbei. Nun wurde auch der Prüfer etwas blass um die Nase: „Dürfen wir denn hier hinein fahren?“ Ich nickte bedächtig und beruhigte ihn: „Aber ja, hier fahren wir schon, so lange ich denken kann!“

Nun, die praktische Prüfung bestand ich dann ein paar Wochen später im zweiten Anlauf.

Eines Tages fand ich im Küchenschrank meiner Großmutter Kochtöpfe, auf deren Innenseite „1-2-3- cups“ stand. Ja, das sei ein Überbleibsel der Amerikaner, die bei ihnen zur Untermiete in der Danziger Straße gewohnt hatten, erklärte sie. Ein junges Paar, sie hießen Byron und Janice. Da meine Oma kein Englisch sprach, entging ihr der ein oder andere Hinweis ihrer Untermieter auf das bevorstehende Wochenende: „Mummy, we’re going to give a party and you don’t know it!“ Die beiden blieben über ein Jahr bei meinen Großeltern und brachten ihre Tochter dort zur Welt. Leider brach der Kontakt in späteren Jahren ab.

Die Kinder, die aus der Ehe Schwarzer und Weißer hervorgingen, waren ein ungewohntes Bild für die hiesig Ansässigen. Man nannte sie damals „Mulatten“ und ich erinnere mich noch genau, wie meine Mutter beim Anblick dieser Kinder immer in Entzücken geriet, weil sie so hübsch aussahen. Ihre Generation hat ausnahmslos positive Erinnerungen an die Amerikaner: Als Schülerin der Schillerschule wurde sie mit der ganzen Klasse in die Kaserne eingeladen, wo die Amerikaner ihnen hot chocolate mit doughnuts servierten und ein Päckchen mit Überraschungen schenkten – ein treat in der sonst eher nüchternen Nachkriegszeit.

Meine persönlichen Erinnerungen an die GIs sind ebenfalls ungetrübt: Als Kinder zogen wir oft unsere Schlitten den langen Weg zum Winterstein hinauf, um dann in einem Affenzahn die lange Straße herunter bis zur Autobahnbrücke in Ockstadt zu rodeln. Glücklicherweise hielten die Truppenwagen der Amerikaner immer an, wenn wir winkten und holten uns mitsamt unseren Schlitten auf die Ladefläche hinauf. Die Kommunikation war aufgrund unserer sehr bescheidenen Englischkenntnisse auf „Hello“, „Thank you“ und „Bye Bye!“ begrenzt, doch wir fühlten uns auf den halb-offenen Truppenwagen immer wohl. Die GIs spendierten uns Wrigley’s Spearmint Gum und hoben uns dann, am Manövergelände angekommen, mitsamt unsere Schlitten wohlbehalten in den Schnee hinunter.

Auch während meiner Teenagerzeit war ich den amerikanischen Jünglingen zugetan, da sie weitaus attraktiver und lustiger waren als die einheimischen Exemplare. Im Contact Club trafen sich jeden Dienstag Abend im „Hotel zur Post“ Amerikaner und Deutsche zur feucht-fröhlichen Diskussionsrunde. Meist erschienen etwas ältere Semester, die uns von ihrem Einsatz im Vietnam-Krieg erzählten. Das war zwar interessant, doch es hielt mich dort nicht sehr lange: das Alternativprogramm in der Kaserne stellte eine ernst zu nehmende Konkurrenz dar. Eines Tages wurde ich zu einer „50s Party“ eingeladen und erschien am fraglichen Abend – mehr oder weniger adäquat gekleidet – vor dem Kasernentor. Auch wenn wir damals in den Ray Barracks ein- und ausgingen, kam man zur bowling alley oder zum Capri Club jedoch nur in Begleitung eines GIs. Und so holte mich Stan am Haupttor ab, an dem eine uniformierte Wache gewissenhaft Personen und Wagen kontrollierte.


                                                        Ray Barracks, Main Gate, 1963

Die Party war gut besucht und ich unterhielt mich mit Tom aus Orange, Texas, den ich auch aus dem „Sanssoucis“ kannte. Wenn ein GI gern ein Gespräch mit einem Gast unterbrechen wollte, ging das damals sehr unkompliziert vonstatten. Die Choreographie war wohl einstudiert: Zwei GIs nahmen Tom an Schultern und Armen hoch, schleiften ihn rückwärts über den Stuhl, und setzten ihn am Nebentisch wieder auf die Beine. Das alles geschah im Bruchteil einer Sekunde, ebenso wie das Herumwirbeln des Stuhls, auf den sich nun ein mir unbekannter junger Mann niederließ, mit den Worten: „Hi. I’m T.J. What’s up?“

T. J. (Thad Johnson war sein Name, doch er war nur unter seinen Initialen bekannt) lehrte mich später im alten Jugendzentrum in der Haagstrasse das Schachspielen. Viele andere werde ich auch nie vergessen. Da war zum Beispiel Wayne, der mir die Geschichte vom Wizard of Oz auf einem Waldspaziergang erzählte – später schickte er mir das Buch nach Paris, wo ich meine au-pair Zeit verbrachte.

Und so wurde mein Verhältnis zu „unseren Amis“ auch durch die Propaganda meines Schulfreundes Stefan nicht getrübt, der versuchte, allen klar zu machen, dass unsere amerikanischen Freunde „Besatzer“ seien. Ich nahm das ganze nicht so ernst, da er zu dieser Zeit als Berufswunsch „Knecht“ angab und im Korea-Nahkampf-Schnitt während der Deutschstunde die „Internationale“ in seinen Tisch im Fahrradkeller des ehemaligen E1 einritzte, in dem wir während der 10. Klasse unterrichtet wurden. (Ich selbst war natürlich eine Musterschülerin, aber aufgrund des Benehmens meiner Mitschüler wurde unsere Klasse für ein Jahr in den ehemaligen Fahrradkeller der Schule verbannt.)

Mit den Jahren verschob sich mein Interesse zu Gunsten aufregenderer Schauplätze. Zwar besuchte ich später einmal das Deutsch-Amerikanische Freundschaftsfest, doch es war eher öde, eine ganz normale Kirmes mit Berg-und-Talbahn und die Verpflegung lief unter acquired taste. Das Rodeo auf dem runway des ehemaligen Flugplatzes zwischen Friedberg und Ockstadt war mein letzter Kontakt mit den hier stationierten Amerikanern. Und den Wettbewerb um die Elvis Presley Bowl verfolgte ich nur noch über die Medien. Ja – der Preis war tatsächlich die Kloschüssel, auf der sich (unter anderen) auch Elvis erleichterte.



Noch heute habe ich ein Andenken an die topsy-turvy Ami-Zeit: Mein Stahlhelm mit inlay, den ich jedoch selten mehr als mein paar Minuten auf dem Kopf behalten kann …


Früher hatte man halt stärkere Nackenmuskeln.

Susie Vrobel, Januar 2011