Sonntag, 12. Februar 2012

Wetterauer Geschichten Teil12

Zurück in der Wetterau (12)

Ganz Gallien? Nein. Nur die kleine Ortschaft Bugarach ist besetzt – von Esoterikern aus aller Welt, die in dem idyllischen Örtchen ausharren, um dem Weltuntergang entgegen zu fiebern. Denn, wie jeder weiß, wird dieser kurz vor Weihnachten eintreten. Genauer gesagt, am 21. 12. 2012, denn – so sagt man – endet just an diesem Tag der Maya-Kalender. Nein, ich habe nicht mein Zelt in Bugarach aufgeschlagen, sondern sitze noch immer gemütlich in meinem Appartment in Bad Nauheim, da mit fortgeschrittenem Alter mein Sättigungsgrad an Weltuntergängen erreicht ist.

Das war natürlich nicht immer so. Und es tut mir auch etwas Leid, dass ich heute so abgestumpft auf die Ankündigung solch kosmischer Ereignisse reagiere. Denn obgleich wir zwischen Spott und Panik oszillierten, wenn uns ein Blick auf die im Schulbus verrottende Bild-Zeitung mal wieder das Armageddon verkündete, hatten diese Bedrohungen auch ihr Gutes. Man wurde aus dem Alltagstrott herausgerissen und beschäftigte sich plötzlich mit tiefen Sinnfagen: Lohnt es sich noch, für die Mathearbeit zu lernen? Wozu Vokabeln büffeln, wenn der Komet die Erde noch vor Fasching in tausend Stücke reißen wird?

Doch auch wenn man solche Schlagzeilen souverän ignorieren konnte, schwebte damals immer ein ganz reales Damokles-Schwert über uns. Es war die Zeit des Kalten Krieges und wir befanden uns auf dem potentiellen Schlachtfeld der Supermächte. Schon früh wurde diese Bedrohung pädagogisch ausgeschlachtet. Im Religionsunterricht an der Philipp-Dieffenbach Grundschule wurde unsere Lehrerin damals in den Sechzigern nicht müde, uns immer wieder klar zu machen, dass wir uns gut benehmen müssen, da ja das Jüngste Gericht theoretisch jederzeit anstehen könnte. Denn, so fuhr sie fort, könnte ja jederzeit und ohne Warnung eine Atombombe auf uns abgeworfen werden. Zu Hause fragten wir dann nach: Ja, theoretisch schon, aber wir sollten uns mal keine Sorgen machen. Das hatte den gleichen Effekt, als wenn man uns sagte, wir sollten nicht an einen blauen Elefanten denken, wenn wir an der Ampel stehen. Und so wuchsen wir mit der Gewissheit auf, dass es sich auf jeden Fall lohnt, jeden Tag zu genießen. Im Teenageralter wurde daraus unser Lebensmotto: Carpe Diem.

In der Grundschulzeit kam für alle Schüler irgendwann der Tag, an dem man nachmittags zum Kommunions- oder Konfirmationsunterricht geladen wurde. Da ich katholisch war, bereitete uns Pfarrer Heininger auf den großen Tag vor. Er war sehr freundlich und redete uns immer mir „Kinderlein“ an, was zwar etwas nervte, aber längst nicht so schlimm war wie die Tatsache, dass man nie wusste, wen er gerade anschaute. Das lag natürlich daran, dass der arme Mann ein Glasauge hatte. Jede seiner Fragen wurde mit einem Chor von Kinderstimmen erwidert: „Ich?“, „Meinen Sie mich?“, „Anni, er guckt dich an!“.

Wir fertigten aus Buntpapier kleine Bilder an, in denen das Jesuskind, umringt von Maria, Josef, den Heiligen drei Königen und allerlei Getier auszumachen war. Die gelungeneren Werke wurden aufgehängt. Einige der Kinder hatten wohl ein wenig gezündelt, denn das Jesuskind meines Klassenkameradens Robert war leicht geschrumpft und and den Rändern angeschmort. Es wurde daraufhin von den anderen Kindern als „verbruzzelt“ verhöhnt und nicht aufgehängt. Nicht einmal im Kommunionsunterricht ging es gerecht zu.

Und so näherte sich der Tag, an dem wir unsere mühsam einstudierten Schritte in der Heilig-Geist Kirche zum ersten Mal vor Publikum absolvieren sollten. Der Tag kam, und wir wurden herausgeputzt wie die Pfingstochsen. Meine schöne bequeme Alltagskluft musste einem weißen Kleid, weißen Stumpfhosen und weißen Schuhen weichen. Auch mein Bruder konnte sich in seinem dunklen Anzug mit Hemd und Fliege nicht so richtig entspannen. Dazu bekamen wir lange weiße Kerzen mit einem weißen Fummel am unteren Ende, der wohl die Hände vor heruntertropfendem Wachs schützen sollte. Vor der Kirche angekommen, sahen wir mit Genugtuung, dass es den anderen Kindern ähnlich ergangen war. Alle zupften und zerrten an der ungewohnten Kleidung während sich der Zug in Zweierreihen nun unter Pfarrer Heiningers Anleitung in die Kirche und dann langsam in Richtung Altar vorschub. Die Choreographie war zwar seit Monaten einstudiert – an gewissen Stellen musste man im Schritt verharren, dann wieder drei Schritte weitergehen und beim Einsetzen der Musik wieder stehen bleiben. Natürlich konnte sich keines der Kinder an die Schrittfolge erinnern, da wir im Kommunionsunterricht die meiste Zeit damit verbracht hatten, auf Pfarrer Heiningers Glasauge zu starren. Und so erinnerte die Kinderschlange, der sich von einer Karrambolage in die andere langsam vorwärts schob, eher an Colonel Hathis Frühpatroullie als einem frommen Kommunionszug.

Irgendwie kamen wir alle heil wieder aus der Kirche heraus und begannen, endlich zu Hause angekommen, sofort uns unsere Festtagskleidung vom Körper zu reißen. Verfrüht jedoch, wie sich sofort herausstellte. Denn zuerst stand noch der Fototermin an. Inzwischen hatten mein Bruder und ich bereits die Kerzen in Schwerter verwandelt, uns selbst in Errol Flynn und Zorro, und forderten uns mit einem klassischen „En garde!“zum Kampf heraus. Leider waren die Kerzen nicht kampftauglich, doch wir meisterten die Schadensbegrenzung, indem wir die Einzelteile geschickt übereinander balancierten, während wir mit unschuldiger Miene für die Kamera posierten.


Ja, eigentlich fing dieser Post mit dem bevorstehenden Weltuntergang an. Wie auch immer dieser einmal aussehen wird – ob wir Außerirdischen oder dem Jüngsten Gericht entgegen treten – ich glaube wir sind gut gerüstet. Ein Blick auf das Kommunionsphoto wird alle höheren Instanzen verträglich stimmen.

Susie Vrobel, Februar 2012

Donnerstag, 19. Januar 2012

Wetterauer Geschichten Teil11

Zurück in der Wetterau (11)

Bürgermeister Michael Keller nannte unlängst das Kasernengelände im Süden der Stadt einen „unerhörten Glücksfall“ für Friedberg, da neues Bauland langsam rar wird. Das nach dem Abzug der Amerikaner entstandene Areal verlassener Kasernen und Wohngebiete erstreckt sich von der Karlsbaderstraße auf Höhe des Dachspfades bis and Ende der Ray Barracks. Es ist heute ein trostloses Niemandsland, doch das war nicht immer so: einst begleiteten uns die Amis auf Schritt und Tritt durch unsere gemütliche Kleinstadt.

Die ersten Amerikaner, an die ich mich erinnern kann, lagen in der Gebäckauslage „beim Theobald“, einem winzigen Einzelhandelsgeschäft an der Ecke Karlsbader - Breslauer Straße. Als Kinder begleiteten wir oft unsere Großmutter zum Einkauf dorthin und durften uns dann einen der kleinen runden Kuchen mit Zuckerguss auf der abgeflachten Unterseite mit nach Hause nehmen. Warum diese Stückchen „Amerikaner“ heißen, weiß ich bis heute nicht. Die jungen Männer in Uniform haben sie jedoch mit Sicherheit nicht eingeschleppt, denn sie existierten schon vor dem Krieg (sagt man so).

Exemplare aus Fleisch und Blut waren zwar, so lange ich denken kann, schon immer Teil des Friedberger Straßenbildes, doch dies waren eben nicht „Amerikaner“, sondern „Amis“. Der Groschen fiel erst später. Anfang der Sechziger sah ich im Vorbeifahren oft neidvoll auf die Schaukeln auf den Spielplätzen der living quarters der Ray Barracks: An langen Ketten hingen breite Leinentücher, auf denen bequem zwei Kinder Platz fanden. Unsere deutschen Schaukeln waren nicht so breit und die Sitzfläche bestand aus einem Holzbrett. Wie gern hätte ich die exotischen Schaukeln ausprobiert! The grass is always greener on the other side of the fence.

Auch sonst war man sich auf Schritt und Tritt der amerikanischen Präsenz bewußt: Wunderschöne gas guzzlers fuhren gemächlich die Kaiserstraße hinauf und hinunter, mit fins und einer breiten, nicht unterteilten Rückbank. Damals hatten die Autos noch Persönlichkeit: sie waren nicht streamlined und kein Mensch scherte sich darum, ob sie im Windtunnel eine gute Figur machten. Sie waren einfach „elend cool“.

Auch die sportlichen Aktivitäten der GIs brachten einen Hauch von Exotik in die Kleinstadt. An der Ecke Königsberger Straße - Im Wingert, fanden regelmäßg Baseballspiele statt. Die jungen Männer auf dem Feld strotzten nur so vor Selbstbewußtsein und kauten gelangweilt auf ihren Wrigley’s Spearmint herum, während sich der pitcher alle Zeit der Welt nahm, um den Ball gezielt zu platzieren. Die Familien der Spieler hatten sich auf einer kleinen Holztribüne versammelt und feuerten, wenn sie nicht gerade den Mund voll hatten, ihr Team enthusiastisch an. Für das Leibliche war wohl gesorgt: ein BBQ und reichlich Bier am Strassenrand lieferten stetigen Nachschub. Nach und nach begriff ich, warum und wann wer warf, fing und losrannte und so beschloss ich, eines Tages auch einmal so cool unter jubelnden Fans einen homerun hinzulegen. Doch es sollte nicht sein, denn keiner meiner Freunde zeigte auch nur das geringste Interesse an meinem neuen Lieblingssport. Später, als ich als Teenager durch Kalifornien trampte, kaufte ich mir meinen ersten baseball glove. Er liegt noch immer in einer Ecke meines Wohnzimmers und wartet darauf, wieder einmal einen Ball zu fangen.

Zur Weihnachtszeit starrten wir im Vorbeifahren auf die hell erleuchteten, mit bunten Lichterketten verzierten Fenster der living quarters. Um „wandernde“ Lämpchen herum erstrahlten die Fassaden und die glitzernden, bonbonfarbenen Father Christmas mitsamt Rudolph und Rentieren. Heute würde mir dazu nur ein Adjektiv einfallen, aber damals verzauberte mich der Anblick dieses verschwenderischen Weihnachtsschmucks.

Dass dieser Straßenzug nur für die Wagen der amerikanischen Anlieger zugelassen war, bekam ich erst viele Jahre später mit, als ich während meiner praktischen Prüfung bemerkte, wie mein Fahrlehrer begann, nervös an seinen Knöpfen herumzuspielen (Sicherheitsgurte gab es damals noch nicht). Wir passierten den Baseballplatz und ich rauschte am Tor zu den Ray Barracks vorbei. Nun wurde auch der Prüfer etwas blass um die Nase: „Dürfen wir denn hier hinein fahren?“ Ich nickte bedächtig und beruhigte ihn: „Aber ja, hier fahren wir schon, so lange ich denken kann!“

Nun, die praktische Prüfung bestand ich dann ein paar Wochen später im zweiten Anlauf.

Eines Tages fand ich im Küchenschrank meiner Großmutter Kochtöpfe, auf deren Innenseite „1-2-3- cups“ stand. Ja, das sei ein Überbleibsel der Amerikaner, die bei ihnen zur Untermiete in der Danziger Straße gewohnt hatten, erklärte sie. Ein junges Paar, sie hießen Byron und Janice. Da meine Oma kein Englisch sprach, entging ihr der ein oder andere Hinweis ihrer Untermieter auf das bevorstehende Wochenende: „Mummy, we’re going to give a party and you don’t know it!“ Die beiden blieben über ein Jahr bei meinen Großeltern und brachten ihre Tochter dort zur Welt. Leider brach der Kontakt in späteren Jahren ab.

Die Kinder, die aus der Ehe Schwarzer und Weißer hervorgingen, waren ein ungewohntes Bild für die hiesig Ansässigen. Man nannte sie damals „Mulatten“ und ich erinnere mich noch genau, wie meine Mutter beim Anblick dieser Kinder immer in Entzücken geriet, weil sie so hübsch aussahen. Ihre Generation hat ausnahmslos positive Erinnerungen an die Amerikaner: Als Schülerin der Schillerschule wurde sie mit der ganzen Klasse in die Kaserne eingeladen, wo die Amerikaner ihnen hot chocolate mit doughnuts servierten und ein Päckchen mit Überraschungen schenkten – ein treat in der sonst eher nüchternen Nachkriegszeit.

Meine persönlichen Erinnerungen an die GIs sind ebenfalls ungetrübt: Als Kinder zogen wir oft unsere Schlitten den langen Weg zum Winterstein hinauf, um dann in einem Affenzahn die lange Straße herunter bis zur Autobahnbrücke in Ockstadt zu rodeln. Glücklicherweise hielten die Truppenwagen der Amerikaner immer an, wenn wir winkten und holten uns mitsamt unseren Schlitten auf die Ladefläche hinauf. Die Kommunikation war aufgrund unserer sehr bescheidenen Englischkenntnisse auf „Hello“, „Thank you“ und „Bye Bye!“ begrenzt, doch wir fühlten uns auf den halb-offenen Truppenwagen immer wohl. Die GIs spendierten uns Wrigley’s Spearmint Gum und hoben uns dann, am Manövergelände angekommen, mitsamt unsere Schlitten wohlbehalten in den Schnee hinunter.

Auch während meiner Teenagerzeit war ich den amerikanischen Jünglingen zugetan, da sie weitaus attraktiver und lustiger waren als die einheimischen Exemplare. Im Contact Club trafen sich jeden Dienstag Abend im „Hotel zur Post“ Amerikaner und Deutsche zur feucht-fröhlichen Diskussionsrunde. Meist erschienen etwas ältere Semester, die uns von ihrem Einsatz im Vietnam-Krieg erzählten. Das war zwar interessant, doch es hielt mich dort nicht sehr lange: das Alternativprogramm in der Kaserne stellte eine ernst zu nehmende Konkurrenz dar. Eines Tages wurde ich zu einer „50s Party“ eingeladen und erschien am fraglichen Abend – mehr oder weniger adäquat gekleidet – vor dem Kasernentor. Auch wenn wir damals in den Ray Barracks ein- und ausgingen, kam man zur bowling alley oder zum Capri Club jedoch nur in Begleitung eines GIs. Und so holte mich Stan am Haupttor ab, an dem eine uniformierte Wache gewissenhaft Personen und Wagen kontrollierte.


                                                        Ray Barracks, Main Gate, 1963

Die Party war gut besucht und ich unterhielt mich mit Tom aus Orange, Texas, den ich auch aus dem „Sanssoucis“ kannte. Wenn ein GI gern ein Gespräch mit einem Gast unterbrechen wollte, ging das damals sehr unkompliziert vonstatten. Die Choreographie war wohl einstudiert: Zwei GIs nahmen Tom an Schultern und Armen hoch, schleiften ihn rückwärts über den Stuhl, und setzten ihn am Nebentisch wieder auf die Beine. Das alles geschah im Bruchteil einer Sekunde, ebenso wie das Herumwirbeln des Stuhls, auf den sich nun ein mir unbekannter junger Mann niederließ, mit den Worten: „Hi. I’m T.J. What’s up?“

T. J. (Thad Johnson war sein Name, doch er war nur unter seinen Initialen bekannt) lehrte mich später im alten Jugendzentrum in der Haagstrasse das Schachspielen. Viele andere werde ich auch nie vergessen. Da war zum Beispiel Wayne, der mir die Geschichte vom Wizard of Oz auf einem Waldspaziergang erzählte – später schickte er mir das Buch nach Paris, wo ich meine au-pair Zeit verbrachte.

Und so wurde mein Verhältnis zu „unseren Amis“ auch durch die Propaganda meines Schulfreundes Stefan nicht getrübt, der versuchte, allen klar zu machen, dass unsere amerikanischen Freunde „Besatzer“ seien. Ich nahm das ganze nicht so ernst, da er zu dieser Zeit als Berufswunsch „Knecht“ angab und im Korea-Nahkampf-Schnitt während der Deutschstunde die „Internationale“ in seinen Tisch im Fahrradkeller des ehemaligen E1 einritzte, in dem wir während der 10. Klasse unterrichtet wurden. (Ich selbst war natürlich eine Musterschülerin, aber aufgrund des Benehmens meiner Mitschüler wurde unsere Klasse für ein Jahr in den ehemaligen Fahrradkeller der Schule verbannt.)

Mit den Jahren verschob sich mein Interesse zu Gunsten aufregenderer Schauplätze. Zwar besuchte ich später einmal das Deutsch-Amerikanische Freundschaftsfest, doch es war eher öde, eine ganz normale Kirmes mit Berg-und-Talbahn und die Verpflegung lief unter acquired taste. Das Rodeo auf dem runway des ehemaligen Flugplatzes zwischen Friedberg und Ockstadt war mein letzter Kontakt mit den hier stationierten Amerikanern. Und den Wettbewerb um die Elvis Presley Bowl verfolgte ich nur noch über die Medien. Ja – der Preis war tatsächlich die Kloschüssel, auf der sich (unter anderen) auch Elvis erleichterte.



Noch heute habe ich ein Andenken an die topsy-turvy Ami-Zeit: Mein Stahlhelm mit inlay, den ich jedoch selten mehr als mein paar Minuten auf dem Kopf behalten kann …


Früher hatte man halt stärkere Nackenmuskeln.

Susie Vrobel, Januar 2011

Mittwoch, 7. Dezember 2011

Wetterauer Geschichten Teil10

Zurück in der Wetterau (10)

Es weihnachtet in Bad Nauheim und die Menschheit wird großzügig. Neuerdings bekomme ich beim allwöchentlichen Einkauf meines Kaffees bei Tschibo eine bunte Sondermarke dazu „gratis“. Kostenlos sei sie, erklärte mir die freundliche Dame hinter dem Tresen: im Kaffeepreis enthalten. Und es sei für einen guten Zweck: 45 Cent fließen direkt in das Mount Kenya Project. So einfach ist es, eine gute Tat zu verbuchen (die ich als alte Pfadfinderin natürlich täglich verrichte). Ich lasse mich nicht lumpen und horte nun bunte Umschläge mit 55 Cent Marken.

Anfang der Siebziger waren gute Taten etwas aufwändiger, denn man musste meist mit vollem körperlichen Einsatz den Weihnachtsbasar unterstützen. Damals flossen unsere Einnahmen allerdings nicht mehr an Biafrakinder, sondern, unter anderem, in die Vereinskasse des VCP, die so unsere Sommerlager subventionierte. In wochenlangen Bastelorgien zur Adventszeit entstanden so mehr oder weniger nützliche Dinge, die wir alljährlich zur Weihnachtszeit an unserem VCP Stand vor der Schillerlinde für einen guten Zweck unter die Menschheit brachten.

Und da die Wetterauer ein spendierfreudiges Volk sind, schmückten unsere Werke nun bald die Wohn- und Schlafzimmer der Region. Und wenn sie noch nicht entsorgt sind, so leben sie heute noch. Schauen Sie mal in ihrem Keller nach, vielleicht finden Sie dort das ein oder andere Ergebnis unserer Bastelwut: Strohsterne, ein verfärbetes Batik-T-Shirt oder eine Kordellampe?

Kordellampen waren Anfang der Siebziger die Wetterauer Antwort auf Akari-Leuchten. Ein schlichtes Lampenmodell, das man leicht in Heimarbeit mit einem Wasserball, einer Kordel und etwas Kleister herstellen konnte. Man blies den Wasserball auf und begann, die Kordel so lange kreuz und quer um den Ball zu wickeln, bis er beinahe nicht mehr zu sehen war. Dann pinselte man Kleister darüber und ließ das Ganze trocknen. Nach ein paar Tagen ließ man dann die Luft aus dem Ball, zog ihn vorsichtig an einem Ende heraus und entfernte den überschüssigen Kleister.

Leider entpuppten sich einige Modelle als nicht wärmeresistent, und so geschah es, dass sich das Schmuckstück oft in Wohlgefallen auflöste. Die ersten Kordelstücke, die die Schwerkraft unbarmherzig in Richtung Teppich zog, versuchte man noch – mehr oder weniger erfolgreich –  wieder anzukleben. Doch es kam der Zeitpunkt, an dem man entnervt die Überreste in einem Karton verstaute und in den hintersten Winkel des Kellers verbannte (wegwerfen ging nicht, denn es war ja selbstgebastelt).

Auch die T-Shirts, die wir zunächst liebevoll mit Wachs beträufelten, zusammenschnürten und dann in Eimer mit gelösten Farben tauchten, erwiesen sich als nicht ganz pflegeleicht. So nahm oft der gesamte Inhalt einer Waschmaschine die Regenbogenfarben unserer Batikkreationen an. Da half meist auch kein Entfärber mehr und das Ergebnis trug nicht gerade zur Weihnachtsstimmung bei.

Doch die kam vor dem Weihnachtsbaum schnell wieder auf, wenn das alljährliche Entwirren des Kabels der Lichterkette anstand. Zu diesem Zeitpunkt war das Gröbste bereits überstanden, denn der Baum stand nun endlich fachmännisch fixiert in einer Ecke des Wohnzimmers.

Der selbst gefällte Baum. Jedes Jahr fuhren wir mehr oder weniger direkt in den Wald (die Karten halfen nicht wirklich zur Orientierung) um den schönsten Weihnachtsbaum auszusuchen, zu fällen, und dann auf dem Autodach nach Hause zu transportieren. Kleinere Hindernisse bewältigten wir mit Bravour und wenn wir auch oft vollkommen verdreckt unser Ziel erreichten (die Reifen drehten meist durch, wenn wir den festgefahrenen Wagen aus dem Schlamm befreiten), schritten wir, einmal angekommen, würdevoll am Förster vorbei in die Tiefen des Taunus.

Nach vollendetem Werk bezahlten wir den Baum und zurrten ihn am Dachgepäckträger fest. Das lief nicht immer ganz glatt, denn ich erinnere mich noch genau an den Abend, and dem ich innerlich schon damit abgeschlossen hatte, Weihnachten wohl im Auto verbringen zu müssen. Einer der Insassen fixierte den Baum auf dem Autodach, indem er die Fenster öffnete, die Spanngurte hinduch und fest zog, so dass die Klemmschnalle sich weiter und weiter Richtung Autodach schob. Es war Zeit, loszufahren. Doch leider war der Autoschlüssel im Mantel meines Vaters, und der war sicher im Kofferraum verstaut. Raus konnten wir nicht mehr, denn die Klemmschnalle war nun unerreichbar irgendwo auf dem Autodach. Es wurde langsam dunkel und ich begann, laut um Hilfe zu rufen. Nach einigen gefühlten Ewigkeiten erschien unser Retter: ein Förster, der kopfschüttelnd den Kofferraum öffnete und uns den Mantel durchs Fenster reichte. Wir bedankten uns recht herzlich und fuhren nach Hause. Aussteigen konnten wir dort leider immer noch nicht, aber einige besorgte Nachbarn befreiten uns bald aus unserer misslichen Lage.

Nun mochte man schon triumphieren: „Wir sind noch mal davon gekommen“, aber ganz so einfach war Weihnachten nicht. Denn nun musste der Baum aufgestellt werden. Ein stabiler Christbaumhalter galt damals als kitschig und verpönt, und so stellten wir den Stamm in eine Dose mit Wasser. Der Baum stieß zwar an die Zimmerdecke und war so halbwegs stabil, doch es bedurfte noch einiger Nylonfäden, um ihn sturzsicher zu machen. Dann wurde er von allen begutachtet: „Sehr schön …“. Doch schon nach kurzer Zeit kam meine Mutter meist zu dem Entschluss, dass der Baum schief stand. Also schob sich mein Vater, flach auf dem Teppich, in Richtung Stamm und Dose, um jene zurecht zu rücken um dem ästhetischen Urteil meiner Mutter zu genügen. Auch wenn mir die Bilder noch klar vor Augen sind, weiß nicht mehr, wie oft es passierte … aber ich erinnere mich an Weihnachten, an denen wir meinen Vater drei Mal unter dem umgestürzten Baum hervorziehen mussten. Es wurde nie langweilig im Ulmenweg.

So bin ich froh, nicht mit ereignislosen Weihnachten aufgewachsen zu sein – bei uns war immer etwas los.

So schön wird Weihnachten nie wieder …

Susie Vrobel, Dezember 2011



Donnerstag, 17. November 2011

Wetterauer Geschichten Teil9

Zurück in der Wetterau (9)

Es ist Herbst in Bad Nauheim und die ein oder andere Nasenspülung mit Salz hilft über die ersten Erkältungen hinweg. Doch die Spülungen wecken auch Erinnerungen ganz anderer Art und lassen mich längst verdrängte Momente meiner Jugend noch einmal durchleben: Kaltes Wasser dringt in die Nase und Nebenhöhlen ein, Luftholen ist nur noch durch den Mund möglich, aber wenn auch der sich unter Wasser befindet, setzt ein Gefühl von Panik ein. Wann wurden diese neuralen Netze generiert, die durch einen einzigen Stimulus solch lebhafte Erinnerungen hervorrufen?

Anfang der Siebziger fand unser wöchentlicher Schwimmunterricht im alten Friedberger Hallenbad in der Haagstrasse statt. Wir drängelten uns links am Kartenschalter vorbei in die Umkleidekabinen, während unser Schwimmlehrer seinen Friedrich Willhelm in eine Liste eintrug. Das Umziehen dauerte knapp drei Minuten, und schon zwängten wir uns durch den schmalen Eingang zum Beckenrand. Ab jetzt herrschten theoretisch neue Regeln: kein Schubsen und kein Rennen mehr, da man leicht ausrutschen und auf die harten Fliesen fallen konnte. Die Praxis sah natürlich anders aus.

Der erste Schock stand gleich zu Beginn der Schwimmstunde an: die eiskalte Dusche an der Treppe des kleinen Nichtschwimmerbereichs. Ich erinnere mich noch gut an die schnatternden Gestalten, die sich nun in einer Reihe am tiefen Becken versammeln mussten: Sextaner in nassen Badehosen oder Bikinis, die fortwährend an den handelsüblichen, nie richtig sitzen wollenden Noppenschwimmhauben zerrten, and denen beim Ausziehen immer ein paar Haarbüschel hängenblieben.

Dann begann die Tortur: Unser Schwimmlehrer warf einen kleinen, massiven Gummiring ins Wasser, den niemand wirklich wieder herausholen wollte. Doch es gab kein Entrinnen. Und so sprang ein Kind nach dem anderen – mehr oder weniger graziös – in das kalte Wasser, um den Vollgummiring zu retten. Es war wirklich sehr tief – besonders, wenn man erst elf war – und das im Wasser gelöste Chlor brannte in den Augen. Nach einer Viertelstunde sahen wir alle aus, als hätten wir eine Nacht durchzecht.

Danach bildeten wir die zweite Schlange – diesmal ein paar Meter weiter rechts, vor dem Ein-Meter Brett. Hier trennte sich nun die Spreu vom Weizen: Zwei bis drei Feiglinge genügten, um den Rest der Klasse, in der Schlange vor Kälte schnatternd, von friedlichen Kindern in aggressive Bullies zu verwandeln (das Wort Bullies gab es damals noch nicht – es waren Rabauken oder Fieslinge: „Spring schon!“, „Feigling!“, „Muttersöhnchen!“, „Memme!“ ). Nach einigen gefühlten Ewigkeiten ging es dann endlich weiter, wenn die Memmen auf allen Vieren rückwärts auf dem Brett zurückkrochen und sich wieder hinten anstellten.

Danach schwammen wir „Bahnen“ und irgendwie erhielten alle am Ende des Schuljahres das Freischwimmer-Abzeichen, das fortan unsere Badehosen kürte. Doch bis dahin war es ein harter Weg. Woche für Woche erfüllten wir unser Soll. Die schöne Jugendstilarchitektur des Bauwerkes ging uns damals an der Badehose vorbei.

Erschöpft und mit nassen Haaren schleppten wir uns mit letzter Kraft zur Pommesbude in der Bismarckstrasse. Für sechzig Pfennig gab es dort eine Tüte Pommes rot-weiß, die nach der allwöchentlichen Tortur unsere wackligen Knie wieder standfest machte.

Kauend schlenderten wir auf der Ludwigstrasse in Richtung Augustinerschule, vorbei am Pali-Kino, ein uns damals riesig erscheinendes Gebäude, in dem Generationen von Schulkindern die Fauna jenseits der Wetterau kennen lernten. Gebannt starrten wir auf die Leinwand, wenn das Schicksal Namus, des Raubwals schon fast besiegelt schien. Bei manchen Filmen flossen ein paar Tränen, die jedoch schnell wieder weggewischt wurden, da man solche Schwächen lieber vor seinen Mitschülern verbarg. Doch als die Löwin Elsa am Ende wieder in den Weiten der Savanne verschwand, blieb kein Auge trocken. Und so hörte man die Titelmelodie von Born Free noch Tage nach dem gemeinsamen Kinobesuch im Schulbus und in der Schlange vor dem Hausmeisterkiosk.

Die Badekappen mit Noppen wurden Anfang der Siebziger dem flower power image angepasst und mit klebrigen Plastikblumen verziert, in denen sich nun noch mehr Haare verfingen. So ist das mit dem Fortschritt.

Wenn eines Tages, in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft, das alte Hallenbad in ungekannt trocknem Ambiente als Theater seine Türen wieder öffnet, werde ich mich wohl im Kreise einiger Besucher meiner Generation wehmütig der guten alten Zeit erinnern und in mehr oder weniger geistreichen Resumées Bilanz ziehen:

„Damals war es nasser.“

Susie Vrobel, November 2011



Sonntag, 30. Oktober 2011

Wetterauer Geschichten Teil8

Zurück in der Wetterau (8)

Ich habe mir beim Eisenreich auf der Kaiserstrasse ein Paar gelbe Chucks gekauft. Ein Einschnitt in meinem Leben, denn bisher trug ich dunkelblau – oder navy-blue, wie es heutzutage heißt. In meinem Schrank türmen sich über ein halbes Dutzend abgelaufener Schuhe jener Marke. Wegwerfen kann man sie nicht, da – wie jeder weiß – die von Sonne und Waschmaschine gebleichten Chucks mit eingerissener Gummisohle mit zunehmendem Alter immer wertvoller werden.

Früher gingen Schuhe nicht kaputt, da sie vor dem Zerfall bereits anfingen, zu drücken. Das war jedoch nicht weiter schlimm, denn in den Sechzigern waren Turnschuhe noch so erschwinglich, dass man die schnell wachsenden Füße sofort in ein neues Paar der gleichen Marke stecken konnte. Die Qual der Wahl kannten wir nicht, denn es gab nur eine Sorte:

In den 60er Jahren trugen alle Kinder die gleichen dunkelblauen Segeltuchschuhe mit der weißen Gummisohle. Keiner von uns hätte den Markennamen nennen können, es waren ganz einfach „Turnschuhe“. So sahen wir im Sportunterricht denn auch alle gleich aus: schwarze ärmellose Turnhemden, eine kurze Turnhose aus Baumwolle und dazu – das einzige Turnschuhmodell der Sechziger Jahre. Dies erklärte auch die Notwendigkeit, Namensschildchen in die Sportbekleidung einzunähen, denn vergaß man sein Turnhemd oder die Schuhe in der Umkleide, wären sie sonst im Fundus des Hausmeisters kaum zu identifizieren gewesen.

Turnschuhe waren definitiv keine Strassenschuhe: sie waren uncool und rochen nicht besonders gut. Und sollte trotz allem ein Kind in blauen Segeltuchschuhen auf der Strasse gesehen werden, war die Diagnose schnell gestellt: „Haha – dem haben sie die Schuhe in der Umkleide geklaut!“ Und so weinte keiner dem alten Paar eine Träne nach, wenn es denn begann, zu drücken.
Dies änderte sich erst Anfang der Siebziger, als wir bemerkten, dass man ganz wunderbar mit einem Kugelschreiber auf ausgebleichtes Segeltuch schreiben und malen konnte. Fast so gut wie auf verwaschene Jeans. Den nun folgenden Bekritzelungs- und Bemalungsorgien, in denen wir unsere tiefsinnigen Weltanschaungen, kunstvolle Kopien der Led Zepplin Alben und die Namen unserer Lieblings-Popstars auf Schuhen und Hosen verewigt hatten (auf den dunkelgrünen Parkas waren sie weniger gut lesbar), folgte nach einigen Wochen die Ernüchterung. Was tun, wenn die Lieblingsband plötzlich eine peinliche, grottenschlechte LP herausbrachte? Wegätzen ging nicht – dann hätte man ja ein Loch im mühsam verschönerten Leinenstoff. Gut, dass Tattoos damals noch nicht „in“ waren. Sonst gliche die Epidermis meiner Generation heute der Niki Laudas. Manch einer griff zu Domestos, doch die so entstandenen weißen Stellen wurden schnell spröde und rissen bei der nächsten Wäsche ein. Letztere konnte man in den 70ern getrost auf den nächsten Monat verschieben – dreckige Jeans waren überaus cool und fielen auch nicht weiter auf – doch irgendwann mußte man sich dem Zahn der Zeit stellen. Ganz arm dran waren die Mitschüler, die sich voreilig „Bay City Rollers“ mitsamt Schottenmuster auf die Schuhe gemalt hatten. Entweder versanken sie nach ein paar Wochen vor Scham in den Boden oder liefen den Rest des Schuljahres nur noch in Sandalen herum.


Mitte der Siebziger tauchten in Friedberg die knöchelhohen Versionen der Kultschuhe auf. Ich erinnere mich noch genau an mein erstes Exemplar – blau mit weißen Sternen – das ich bestimmt bis zum Abitur getragen hätte, hätte sich da nicht der Zwischenfall im Schullandheim auf der Seiser Alm ereignet. Nachdem wir unsere Ankunft ausgiebig gefeiert hatten, fielen wir todmüde in unsere Etagenbetten. Meine Freundin B., die es sich gerade im Bett über mir bequem gemacht hatte, unterrichtete alle fünf Zimmergenossinen prompt und detailliert über ihr Befinden („Mir ist so schlecht, ich glaube ….“). Die Ankündigung kam jedoch zu spät, denn im nächsten Moment sah ich ihren Mageninhalt im freien Fall an mir vorbei in meinen geliebten Turnschuhen landen. Da kam jede Hilfe zu spät: ich entsorgte die randvollen Chucks im Müllcontainer hinter der Hessenhütte und trug für den Rest der Klassenfahrt meine tonnenschweren Bergsteigerschuhe. Das gab kräftige Wadenmuskeln. Danke, B.!



Heute, so lese ich neuerdings, sind die sympathischen Segeltuchschuhe mit der weißen Gummisohle das understatement schlechthin. Ein understatement kostet übrigens schlappe 69 Euro. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, aber es wird immer teurer.

Susie Vrobel, Oktober 2011

Sonntag, 11. September 2011

Wetterauer Geschichten Teil7

Zurück in der Wetterau (Teil 7)

„Die Gesichtsfarbe ist nicht natürlich. So gelb-stichig.“
Ich werfe einen Blick auf mein Passbild. Eindeutig ich.
„Das können wir nicht nehmen.“
Die Tatsache, dass das gleiche Passfoto in meinen anderen Ausweisen ohne Beanstandungen eingeklebt wurde, hilft nicht. Also lasse ich beim Porst um die Ecke ein neues Photo aufnehmen und komme mit dem frisch ausgedruckten Bild zurück zum Bürgerbüro Bad Nauheim.
„Sieht dies mir ähnlich?“
Die Dame scheint zufrieden, legt es zu den Akten und ich atme auf. Nein, ich hatte nicht vor, diplomatische Immunität zu beantragen, sondern lediglich meinen Fischereischein erneuern zu lassen.

Manche Dinge ändern sich nie. Die deutsche Bürokratie ist alive and well. Mitte der Siebziger wurden mir im Rathaus der Stadt Friedberg bereits die ersten Weichen gestellt. Ich hatte vor, in meinem Reisepass meinen Künstlernamen eintragen zu lassen. Das war mehr als notwendig, da man damals – wie jeder wusste – „Susi“ mit „z“ und „y“ schreiben musste, um auf dem internationalen Parkett bestehen zu können. So wie Suzy Quatro. Eine Kleinigkeit – dachte ich. Doch der Herr im Amtszimmer stellt sich quer: „Sie müssen eine bekannte Persönlichkeit sein wie … wie …“  Er überlegte einen Moment: „… wie Annliese Rothenberger.“ Ich wurde blass um die Nase: es gab auch damals keine gemeinsame Gesprächsgrundlage.

Ob diese Behördenwillkür dazu beitrug, dass ich nie ein Rock-Star wurde, weiß ich nicht. Ich habe auch keine weiteren Versuche unternommen, den Herrn vom Amt zu überzeugen, denn die Furcht, dass ich als Künstlerin in einem Atemzug mit Anneliese Rothenberger genannt werden könnte, drehte mir den Magen um. Was tun? Ich konnte schlecht warten, bis die Dame den Löffel abgeben würde. Es musste noch andere Wege geben.

Ich sah mich nach neuen Wirkungskreisen um, und so küßte mich eines Tages jäh die Muse der bildenden Kunst. Meine erste Vernissage fand im Atelier Koppenhagen in Friedberg statt. Es war ein netter Abend mit Buffet und Gesangseinlagen – nicht nur viele alte Freunde kamen, sondern auch meine Großeltern. Mein Oma wusste zwar nicht genau, worum es bei einer Vernissage ging, aber sie amüsierte sich gut und konzentrierte sich hauptsächlich auf das Buffet. Es erschien ihr nicht schicklich, herumzulaufen und die Ausstellungsobjekte zu begutachten, uns so wurde mein Großvater heftig kritisiert. „Er läuft überall herum. So was von neugierig – wie ein Pudel!“ Lange nach Mitternacht, als vom Buffet nur noch ein paar Krümel übrig waren, fand sie, es sei nun an der Zeit zu gehen. Beim Verabschieden sah sie sich kurz um und fragte mich: „Hast du die gemalt?“

Die meisten Austellungsstücke jener Vernissage haben heute das Zeitliche gesegnet, da sie diverse Umzüge nicht überstanden haben. So sind mein Freischwinger-Stuhl mit Teddyarmen, mein kangaroo waiter und der Attraktor-Spiegel heute Geschichte. Aber es gab auch ermunternde Worte und ich habe an diesem Abend sogar zwei Bilder verkauft. Das erste an meinen Freund Loschi und das zweite an einen mir unbekannten Rechtsanwalt, der es für seine Kanzlei vorgesehen hatte. Letzteres war eigentlich eher ein Unfall. Damals waren Leinwände sehr teuer und ein misslungenes Bild wurde häufig übermalt. Bei besagtem Werk hatte ich bereits zum zweiten Mal die Farbe unter dem laufenden Wasserhahn mit einem Spülschwamm abgekratzt, als ich plötzlich Gefallen an dem übrig gebliebenen Gemisch auf der Leinwand fand. Das Kunstwerk hängt wahrscheinlich immer noch in einer Friedberger Kanzlei.

Und wenn eines Tages in ferner Zukunft Schüler eine Werkanalyse dieser nicht-ganz-abgeschrubbten Leinwand vornehmen müssen, hoffe ich, dass ich aus fernen Gefilden dieses hoffnunglose Unterfangen amüsiert beobachten kann. So hätte ich die gefürchtete Anneliese-Rothenberger-connection elegant umgangen und wäre – wenn auch nicht als Rock-Star – bei dem Herrn im Rathaus legitimes Beispiel für einen Künstlernamen. Sehr zum Entsetzen der neuen Generation.

Damals hatte man noch Geschmack.


Susie Vrobel, September 2011

Sonntag, 7. August 2011

Wetterauer Geschichten Teil6

Zurück in der Wetterau (6)

Neulich kaufte ich bei Rewe in Bad Nauheim Getränke für meine Geburtstagsparty ein. Nachdem ich bezahlt hatte, überreichte mir die Kassiererin wortlos einen Stapel Papiertütchen mit bunten Tierbildern. Sie bemerkte meinen verwunderten Blick und raunte: „Fürs Album!“ Ich bedankte mich und packte sie ein. Sie liegen noch immer ungeöffnet irgendwo auf meinem Schreibtisch. Denn heute bin ich immun gegen das Sammelfieber.

Das war nicht immer so. 1970 erlag ganz Friedberg – inklusive Susie Vrobel – dem Charme eines neuen Produkts. Das Objekt der Begierde war ein Tütchen mit Americana-Bubblegum und 3 Klebebildern, das wir für 10 Pfennig im Lekkerland in der Haagstraße gegen unser Taschengeld eintauschten. Das Album gab es gratis dazu. Wir öffneten die Tütchen und pressten sofort unsere Nasen auf die Bilder, die einen unwiderstehlichen Geruch ausdünsteten. Ich nehme an, es war eine Mischung aus Spearmint und Formaldehyd. Nach dem Inhalieren kauten wir den Bubblegum und verstauten die Bilder vorsichtig in der Hosentasche.

Unsere Sammelalben füllten sich schnell, doch nach ein paar Wochen hatte ich einen beträchtlichen Überschuss an Kaffernbüffeln. Die waren aber prakisch nicht mehr tauschbar, da alle anderen Kinder zu Hause ebenfalls Stapel von Kaffernbüffeln und Alligatoren horteten. Und egal, wie oft wir uns neue Tütchen erquengelten, die Verteilung der Fauna war höchst unausgeglichen: In meinem gesamten Bekanntenkreis fehlte allen die Zirkade – ich glaube, Americana hat nie mehr als 2 Exemplare dieses Abziehbildchens gedruckt.

Und so hatte jedes Kind 1971 ausgebeulte Hosentaschen, aus denen die Klebebildchen bei jeder Gelegenheit sofort griffbereit herausgezaubert wurden. Im Pausenhof war nicht genug Zeit, uns so verlagerten wir die Tauschbörse in den sonntäglichen Kirchenbesuch. Mein Bruder und ich waren zwar nicht fromm, aber wir gingen fast ein ganzes Jahr hin, weil meine Oma es so wollte – sie war besorgt, wir könnten als Heiden aufwachsen. Was das genau war, wußte ich zwar nicht, aber ich fügte mich gern, da wir nun in aller Ruhe unseren Tauschgeschäften nachgehen konnten.

Für Außenstehende müssen wir damals sehr fromm gewirkt haben. Doch unsere Köpfe waren nicht in Demut geneigt, sondern über die Stapel von Klebebildern. Und das kaum wahrnehmbare mantra-ähnliche Gemurmel der 9-jährigen in der hinteren Reihe war bei näherem Hinhören auch kein Rosenkranz-Gebet – wenn es auch sehr repetitiv klang - sondern: „Hab’ ich, hab’ ich, hab’ ich, ….hab ich nicht!“ So kam es doch zur ein oder anderen Erweiterung der Sammlung, doch die Zirkade habe ich niemals gesehen.

Die Friedberger Esso Tankstelle war damals ein weiterer Quell der Sammlerwut. Die Alben waren nicht einfach mit Heftzwecken zusammengetackert, wie die Americana-Vorläufer, sondern ordentlich gebunden und mit einem Hochglanz-Einband versehen. Ich war stolze Besitzerin dreier Alben: Tiere, Tierkinder, und Hans Hass: Vorstoß in die Tiefe (ohne Monster). Eine ganze Generation von Schulkindern brachte damals ihre Eltern und Großeltern dazu, von Shell auf Esso umzusteigen.

Doch Esso hatte noch mehr zu bieten: Anfang der 70er bekam man pro 20 Liter Benzin ein Tütchen mit Briefmarken aus aller Welt. Sie waren, glaube ich, nicht gestempelt und riefen in uns ein nie gekanntes Fernweh hervor. Da gab es dreieckige Marken aus der Zentralafrikanischen Republik und auch kleine blaue aus Mauritius, die allerdings keine müde Mark wert war. Aber man konnte ja nie wissen, und so verglichen wir vorsichtshalber unsere Schätze mit den Abbildungen im Sammlerlexikon. Ich weiß bis heute nicht, wie die Shell-Tankstelle gegenüber diese Zeit überlebt hat.

Meine Sammlerwut nahm in der Pubertät jedoch ein abruptes Ende, da es von nun an aufregendere Dinge zu beäugen gab. Das war auch gut so, denn so konnte ich mich leichten Herzens von den Briefmarken trennen, als ich sie meinem Bruder verkaufte, um meinen Deckel im Lascaux bezahlen zu können.

Heute stapeln sich in meinen Schubladen weniger ansprechende Sammlungen: die Kontoauszüge der letzten Jahre und Quittungen für den Steuerberater.

And so it goes …

Damals sammelten wir noch etwas Vernünftiges.


Susie Vrobel, August 2011