Dienstag, 27. August 2013

Wetterauer Geschichten Teil19

Zurück in der Wetterau (Teil 19)

Ich habe mir heute ein neues Fahrrad gekauft. Es ersetzt mein Ragazzi-Rad, das ich vor Jahrzehnten im Real-Markt Kassel einst für 130 DM erwarb. Der Zahn der Zeit hatte dem Gefährt zugegebenermaßen schwer zugesetzt. An den Spott meiner Mitbürger hatte ich mich ja schon gewöhnt („Susie, wozu schließt du das Ding denn ab?“, „Hält das bis Friedberg?“). Solche Bemerkungen gingen mir jedoch an der Badehose vorbei. Mir fiel auch nicht auf, dass die Handbremse nicht mehr funktionierte. Das fand ich dann letzten Freitag heraus. Die Folgen (ein verstauchter und zur doppelten Größe angeschwollener Finger, großflächige Schürfwunden am Ellenbogen und diverse blaue Flecke) überzeugten mich schließlich. Das neue klappert nicht und die hämischen Bemerkungen bleiben aus.

Mein erstes Fahrrad hatte weder Gangschaltung noch Gepäckträger, war jedoch so robust, dass man eindrucksvoll absteigen konnte. In den Sechzigern sah das so aus: Am Bolzplatz angekommen, sprang man ohne zu bremsen ab und ließ das Fahrrad in ein Gebüsch rasen, indem es dann zum Stehen kam. Wichtig war, sich nicht mehr umzudrehen, um zu sehen, wo es gelandet war, sondern geradewegs zu den anderen Kindern auf den Fußballplatz zu laufen. Wer sich nach seinem Rad umdrehte, spielte höchstens noch den Sepp Maier im Tor. Oder wurde – noch schlimmer – in der Verteidigung eingesetzt. Der Gipfel der Erniedrigung war es jedoch, die Rolle von Berti Vogts übernehmen zu müssen.

Dazu muss man wissen, dass wir damals auf dem Feld sofort die Identitäten der damaligen Nationalmannschaft annahmen. Wer auf welcher Position spielte, wurde von den Mannschaftskapitänen festgelegt. Dazu liefen diese aufeinander zu, indem sie genau einen Fuß vor den anderen setzten, bis sie sich in der Mitte trafen. Wer den letzten Fuß gerade auf den Boden setzen konnte, begann mit der Auswahl der Spieler. Die vollkommen talentfreien Zwillinge von nebenan standen immer als letzte auf dem Platz, bis ein Junge mit dicker Brille in die Nachbarschaft zog, der den Ball auch nicht getroffen hätte, wenn man ihn festgenagelt hätte.

Diese natürliche Auslese traf jedoch nicht auf die Mannschaftskapitäne zu. Hier reichte der Besitz eines Lederballs zur Qualifikation. Einen Schiedsrichter brauchten wir auch nicht. Bei Meinungsverschiedenheiten nahm der Besitzer seinen Ball unter den Arm und drohte, damit sofort nach Hause zu radeln. Diese Ankündigung führte meist zu einem spontanen Sinneswandel unter den Spielern, da man sonst mit einem ultra-leichten Plastikball hätte weiterspielen müssen.

Irgendwann bekam auch ich einen Lederball geschenkt, und konnte fortan nicht nur mein Team einteilen, sondern auch selbst wahlweise als Franz Beckenbauer das Mittelfeld kontrollieren oder als Gerd Müller das ein oder andere Tor schießen. Zum Rollentausch genügte es, lautstark anzukündigen, dass man sich ab jetzt in einen Stürmer verwandelt hat. Berti Vogts mit der dicken Brille nahm dies erwartungsgemäß protestlos hin und auch der Rest fügte sich schnell.

Obwohl wir damals jeden Nachmittag Fußball spielten, wusste keiner genau, was Abseits bedeutete. Man hörte zwar hin und wieder einen Aufschrei, doch der wurde ignoriert. Was dazu führte, dass ich mich als Gerd Müller seelenruhig vor dem Tor des Gegners positionieren konnte und einfach auf einen guten Pass warten konnte. Fußballgeschichte haben wir nicht geschrieben, aber dafür waren wir alle fit und cool – oder besser locker, denn der Ausdruck cool existierte damals noch nicht in den hiesigen Gefilden.

Der Fußball wirkte sich auch auf andere Lebensbereiche aus. Mein Bruder trug damals einen Günter-Netzer-Haarschnitt. Haarschnitt ist vielleicht etwas übertrieben – er hatte lange blonde Haare, die überall herumschwirrten, und die Sicht verdeckten, wenn er den Kopf drehte. Wenn ich mich recht erinnere, war dies damals nur bedingt dem Einfluss der Hippie-Kultur zuzuschreiben – es lag wohl eher daran, dass meine Mutter, die damals unsere Frisuren bestimmte, auf Günter Netzer stand.

Damals hatten wir noch den Durchblick.


Susie Vrobel, August 2013

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