Donnerstag, 18. April 2013

Wetterauer Geschichten 14

Zurück in der Wetterau (14)

 „Erwin! Ich bin bei der Marmelade!“

Dieser markerschütternde Schrei erschallte unlängst im Tegut in der Stresemannstrasse. Rentner haben in der Regel kein Smartphone und vertrauen bei der Kontaktaufnahme auf ihr durchtrainiertes Organ. Dies verursacht zwar den ein oder anderen Schock unter den noch gut hörenden Einkäufern, doch ist der Rapport in der Regel schnell wieder verhallt. Sobald sich mein Puls wieder eingependelt hatte, relativierte sich das anfängliche Urteil schnell: Immer noch besser, als das nicht enden wollende Geplapper der Mobilfunknutzer.

Es gab Zeiten, in denen solch Zugeständnisse niemandem in den Sinn kamen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass außer Captain Kirk und Spock niemand über zigarettenpäckchengroße devices kommunizieren konnte. Es war die Zeit des „Kleinen Tierfreunds“, in denen man das limitierte, jedoch in Ruhe aufgesaugte Wissen oder auch haarsträubende Gerüchte erst dann weiter geben konnte, wenn man entweder einen wissbegierigen Zuhörer oder eine captive audience in Fleisch und Blut vor sich hatte.

Es waren die frühen Siebziger. Wir erfreuten uns damals wunderbarer Auszeiten, in denen man nicht überwacht wurde. So kämpften wir uns als 12-jährige nach einem halben Jahr Französischunterricht drei Tage und Nächte ohne Erwachsene durch Südfrankreich. Das Projekt (in den 70ern wurden fast alle nicht unmittelbar verständlichen Aktionen als Projekt bezeichnet) war französisch sprechenden Zeitgenossen als trappeur bekannt. Unsere Eltern glaubten uns wohlbehalten und unter Aufsicht in einem Pfadfinderlager irgendwo an der Dordogne, doch die Realität sah anders aus.

Mit Zeichensprache, Kompass und einem Schweizermesser schlugen wir uns (zwei französische und zwei deutsche 11- bis 12-jährige Pfadfinder) durch die Felder weit ab jeglicher Zivilisation. Wenn wir müde wurden, schlugen wir unser Zelt auf, klauten ein paar Maiskolben und grillen sie über dem Lagerfeuer. Die erste Feuerwache schlief sofort ein, so dass wir uns ohne Frühstück und in klammen Klamotten wieder auf den Weg machen mussten.

An diesem Morgen bemerkte ich, dass wir seit einigen Stunden die Spur eines Berglöwen kreuzten. Und so folgten wir vorsichtig dem ausgetrockneten Flusslauf, immer Ausschau haltend nach verborgenen Großkatzen. Florence sprach immer wieder das nicht stattgefundene Frühstück an, doch nun gab es existenziellere Bedrohungen. Ich hatte mein Messer zwischen die Zähne geklemmt, um beide Hände frei zu haben, falls sich die Bestie auf uns stürzen würde (die anderen waren nicht bewaffnet). Nach einigen Flussbiegungen glaubte ich selbst an meine Schauergeschichten und auch meine Knie wurden weich. Die drei Tage des trappeur erschienen endlos – menschenleere Feldwege, und keine Telefonzelle weit und breit (Smartphones gab es noch nicht) – doch irgendwie erreichten wir schließlich das Dorf, in dem wir uns mit dem Rest der Truppe verabredet hatten. Und so verdreckt und verschwitzt wie wir damals wieder in die Zivilisation eintauchten war es wohl ganz gut, dass es keine social networks gab, um dem Rest der Welt zu zeigen, welch aufregendes Leben man führte.

Jetzt läuft der Hase etwas anders. Auf meiner facebook wall tummeln sich in viertel-stündigen Intervallen Einträge meiner Bekannten, die nun alle Hände voll zu tun haben, dem geschmackvollen, gebildeten und attraktiven Avatar zu entsprechen, der sich mir nichts dir nichts im virtuellen Raum entwickelt hat.
Und wehe, ich finde das Foto der Katze oder des Sprösslings nicht „süß“, die Aufnahmen von vorbeifahrenden Autos nicht geil, geil … oder signalisiere nicht schleunigst meine tiefe Betroffenheit.
Böse Zungen behaupten, dass ich nichts hochlade, weil ich nach meinen Angelausflügen außer einer verwurschtelten Leine und ein paar Kratzern nichts vorzuweisen habe.

And so it goes ...

Wo war ich? Ach ja – im Tegut. Erwin sehnt sich wahrscheinlich zurück in die Zeiten der Tante Emma Läden, wo er und die Marmelade leichter zu lokalisieren waren als im neuen A&O in der Taunusstraße.

Und jetzt fällt es mir schwer, den gewohnten Abschluss mit „Aber früher waren wir halt …“ zu finden. Mike Brady wäre wahrscheinlich der Einzige, der hier noch etwas hinzufügen könnte.

Susie Vrobel, April 2013

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